Keine der Studentinnen hatte jemals einen persönlichen
Kontakt mit Straßenkindern, und normalerweise meiden sie
die Gegenden, in die sie das Projekt jetzt führt. Dort
begegnen sie einer unbekannten, sie irritierenden, verunsichernden
und ängstigenden neuen Welt.
Was sie erleben und erfahren, erleben und erfahren sie
beispielhaft für alle zukünftigen Studenten, die sich
während der Ausbildung in der Normal einmal mit Straßenkpädagogik
beschäftigen sollen.
Deshalb ist es von persönlichem wie von allgemeinem Interesse,
dass sie ihre Erfahrungen und Erlebnisse aufschreiben.
Jede Studentin führt ein Projekttagebuch. Darin dokumentieren
sie den eigenen Weg des Lernens und der Selbstveränderung:
Rosa Arias und Alejandra Castano schreiben:
"Wenn irgendwo das Thema Straßenkinder angesprochen wird,
ist es üblich, schnell darüber hinweg zu gehen, wegzuhören.
Schließlich fühlt sich jeder irgendwo schuldig für diese
harte, ungerechte Wirklichkeit." "Wenn ich zum Patio (im
Stadtzentrum) komme, muss ich erstmal meine Angst überwinden.
Es ist nicht leicht, mit den Kindern in Kontakt zu treten.
Spiele helfen uns dabei: mit Wasser gefüllte Luftballons,
Bälle, Bastelarbeiten. Je häufiger wir miteinander spielen,
um so näher kommen wir uns. So lernen wir etwas vom Leben
der Kinder kennen, etwas von ihrer Persönlichkeit, ihren
Vorlieben, ihren Freunden und auch von ihren Feinden."
"Wenn wir die Angst erst einmal überwunden haben, gelingt
es, auf dem eingeschlagenen Weg voranzukommen, wir kommen
uns näher; und das ist wichtig für sie, aber auch für
uns."
Luisa Fernanda Ríos: "Als wir zum zweitenmal hinkamen,
freuten sich die Kinder. Wir machten ein Kennenlern-Spiel,
bei dem man sich die Namen aller Anwesenden merken und
aufsagen mußte. Bei den weiteren Spielen gingen die älteren
Kinder - die über Vierzehnjährigen - auf die Seite und
machten nicht mit. Einige waren zu ängstlich, die anderen
dachten, das seien Spiele für Kleinkinder, nicht für sie.
Manche hatten einfach keine Lust zum Spielen. Das machte
die Sache etwas schwierig; sie fingen an und ließen es
gleich wieder bleiben, je nach Lust und Laune. Die Verabschiedung
war etwas schwer für mich. Viele von ihnen kamen herbei,
umarmten mich, gaben mir Küsse; einer übertrieb es etwas,
er wollte mich einfach nicht mehr loslassen." "Bei unserem
dritten Kontakt waren die Kinder schon viel zutraulicher;
sie spielten jetzt lieber mit und hatten offensichtlich
mehr Freude dabei. Ein Kind hat mich besonders angezogen,
es heisst Arley - ein zarter Junge, den man sofort sympathisch
findet und der sehr leicht Kontakt mit einem aufnimmt.
Er ist überhaupt nicht ängstlich, und er nimmt auch keine
Drogen. Er schließt sich sofort demjenigen an, der freundlich
und zärtlich mit ihm ist."
Sor Sara: "Auf die Straße gehen und Kontakt
mit den Kindern aufnehmen - das ist immer wieder ein Abenteuer,
das mir nicht selten etwas Angst macht. Da begibt man
sich auf einen Weg, der schwierig ist und auf dem es nur
langsam vorangeht. Bei der ersten Begegnung waren die
Kinder sehr zurückhaltend, wenig spontan; sie beobachteten
uns aus der Ferne, fuhren mit dem fort, was sie gerade
taten, ließen uns dabei aber nicht aus den Augen. Dann
aber sind wir uns langsam näher gekommen, jedes neue Mal
sind sie aufgeschlossener, freundlicher. Sie wollen, dass
man ihnen zuhört, wollen ihre Lebensgeschichte erzählen,
von ihren Ängsten und Plänen berichten. Die meisten sagen,
sie seien von zu Hause ausgerissen, weil sie geschlagen
worden sind.
Wenn man sieht, wie sie schlafen, zusammengerollt wie
Embryos - das drückt unbewußt aus, was ihnen fehlt und
was sie brauchen: Sie suchen ein Nest, eine Schulter,
an die sie sich lehnen, einen Schoß, in den hinein sie
sich bergen können. Aber die wenigsten wollen zurück zu
ihrer Familie.
Sie haben Waffen, Messer, Pistolen; denn sie leben in
beständiger Angst,. Sie haben Hunger, und ihr Territorium
müssen sie Tag für Tag aufs Neue verteidigen, und sie
müssen um Nahrung und Drogen kämpfen. Das schlimmste ist
jedoch der sexuelle Missbrauch, der hauptsächliche Grund,
weshalb sie sich bewaffnen.
Untereinander sind sie aggressiv und gewalttätig. Ständig
streiten sie, dauernd verletzen sie sich mit Messern.
Ihre Körper sind voller Wunden, jede Narbe erzählt eine
böse Geschichte und erinnert sie daran, den abgrunbdtiefen
Hass ihres Herzens nicht zu vergessen.
Was alle wollen, ist leicht gesagt: zur Schule gehen,
etwas lernen, eine Arbeit aufnehmen, eine Familie gründen.
Wenn sie darüber sprechen, verändert sich der Ton ihrer
Stimme, sie rücken näher heran, ihre Worte werden ernst,
nachdenklich, traurig. Sie lieben es, wenn man ihnen zuhört,
sich für ihre Geschichte interessiert. Sie wollen mit
ihrer ganzen Wirklichkeit wahrgenommen werden.
Beim Abschied - in der Umarmung, bei einem Kuß, beim Händedruck
- zeigen sie, wenn auch ängstlich, etwas von ihren Gefühlen."