- Die Rheinpfalz, 4. März 2004: „Fremde Welt: Morgentoilette an der Kloake“
- Wochenblatt Landau, 25. Februar 2004: „Aus anderer Perspektive“
- Hamburger Morgenpost, 17. Februar 2004: „Wenigstens ein Mal in Pose werfen können“
- Taz Nord Hamburg, 16. Februar 2004:„Überleben ist alles“
- Glaube und Leben, Bistum Mainz, 15. Februar 2004: „Sieh die Narbe, hör die Geschichte“
- RZ Koblenz, 12. Februar 2004: "Narben auf der Kinderhaut "
- Rhein-Neckar-Zeitung, 21. November 2003: "Mit der Kamera durch die Slums von Medellín"
- Die Rheinpfalz, 31. Oktober 2003: "Blick aus dem Elend - Kolumbianische Straßenkinder zeigen ihre Welt mit selbst fotografierten Szenen"
- Hessische Allgemeine (HNA), 27.
September 2003: "Zu Gast in Kassel: Hartwig Weber"
- "Büchergilde":
"Faszinierende Kinder, die eine ungeheure Vitalität
haben!" Interview mit Hartwig Weber über sein Fotoprojekt
mit Straßenkindern und soziale Missstände in Kolumbien
- "Haushalt
und Bildung", 80 (2003), Heft 1, S. 54ff.: "Patio
13" - Biographie und Erfahrung in ihrer Bedeutung für
eine Didaktik und Methodik der Straßenkinderarbeit
- "Die Rheinpfalz",
27. Januar 2003: Straßenkinder und ihre
Blicke auf sich selbst - Die Heidelberger Ausstellung „Auslöser“
- "Mannheimer Morgen", 21. Januar
2003: Straßenkinder sehen ihren Alltag durch den Sucher
- Foto-Ausstellung in der Heidelberger Print Media Academy stellt
pädagogisches Projekt vor
- "Rhein-Neckar-Zeitung",
21. Januar 2003: Jede Narbe erzählt vom Kampf ums Überleben
– Ausstellung „Auslöser“ in der Print Media
Academy dokumentiert Straßenkinder-Projekt der PH in Kolumbien
– Morgen ist Vernissage
- "Mannheimer Morgen", 5.
Februar 2002: Heidelberger Studenten unterrichten Straßenkinder
in Südamerika.
Bundesweit einzigartiges Modellprojekt der Pädagogischen Hochschule
- holt das Klassenzimmer in die Slums
- "Rhein-Neckar-Zeitung", Heidelberg:
Eine Zukunft für die Straßenkinder. Gemeinsames Bildungsprojekt
von Heidelberger Druckmaschinen und PH Heidelberg für Kolumbien
- "Daktylos", April 2002: Lebensgeschichten
- in die Haut geschrieben. "patio 13 - Schule für Straßenkinder"
- Projekt der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und der
Heidelberger Druckmaschinen AG - Professoren und Studierende in
den Slums der kolumbianischen Metropole Medellín
Die Rheinpfalz, 4. März 2004: „Fremde Welt: Morgentoilette an der Kloake“
Von Sonja Roth-Scherrer
Kolumbianische Straßenkinder gewähren Einblicke in ihr Leben: Fotoserie im Landauer Frank-Loebschen-Haus zu sehen
Gruppenbilder mit Kindern. Karten spielende Kinder. Kinder mit Kuscheltieren. Lachende, fröhliche, ja ausgelassene Jugendliche und junge Erwachsene. Selten ernst blickende Jungen, die provozierend den Mittelfinger in die Kamera strecken. Herausfordernde Blicke aus schönen Gesichtern junger Frauen. Fast idyllisch: ein Liebespaar neben Bahngleisen auf einer Wiese. Selbst die Fotografien von Schlafenden auf der Straße und die Morgentoilette an der Stadtkloake, die Unwirtlichkeit und Schmutz nicht verbergen können, wecken keine unangenehme Empfindung. Die Aufnahmen der Behausungen aus Pappe, Stoff und Blech wirken gar einladend gemütlich auf den Betrachter der Fotoserie von kolumbianischen Straßenkindern über sich selbst, die von Anna Kienzler vom Landauer Verein „Kulturzentrum Altstadt" organisiert und seit Sonntag im zweiten Geschoss des Frank-Loebschen-Hauses in Landau zu sehen ist.
Die Straßenkinder wollen ihr Leben mit den Bildern authentisch dokumentieren, sagt die Kunsterzieherin. Sichtbares Elend und Verzweiflung sucht der Besucher der Ausstellung „Auslöser - La mirada desde adentro (der Blick von innen)" vergeblich. Das Projekt „Patio 13 - Schule für Straßenkinder" verfolgt seinem Initiator Professor Hartwig Weber zufolge eine pädagogische Absicht: Sie sollen sich selbst ermöglichen, sich zu bilden.
Bildung sei der „einzige Weg aus der Armut und Schlüssel zur Zukunft". Weil Sprache für seine Zielgruppe nur unzulänglich als Medium geeignet schien, kam Weber vor zwei Jahren auf die Idee der Fotografie. Eine einfachere Art, sich auszudrücken. Studenten verteilten einhundert Einwegkameras an die Straßenkinder in der Millionenstadt Medellin mit der Bitte, damit zu dokumentieren, wer sie seien, wie sie sich selbst empfinden und welche Perspektiven sie hätten. Bei dem Projekt kooperieren die Pädagogische Hochschule Heidelberg und die Escuela Normal Superior im kolumbianischen Copacabana, eine Hochschule, in der Grundschullehrer ausgebildet werden.
Viele der Kameras kamen mit Bildern zurück. Straßenkinder zeigen nicht, was schief läuft, keine Kämpfe, Messerstechereien, Vergewaltigungen und Übergriffe der Todesschwadrone sind zu sehen. Sie präsentieren dagegen stolz und mit Würde, was ihnen gelingt. Bilder entstanden, die authentischer als Worte die Kraft und Kreativität der Jugendlichen beschreiben. Die Fotos und wenigen Texte berühren und machen aufmerksam auf die Wünsche und Hoffnungen der jungen Leute, die sich von der Gesellschaft abgeschriebenen fühlen müssen. Mehr ein- als aufdringlich dokumentieren sie mit den Bildern ihre Sexualität und Probleme mit Drogen und Gewalt.
„Straßenkinderpädagogik" heißt der neue Studiengang. Angehende Lehrer sollen lernen, eine Brücke zu bauen zwischen Schule und Straße. Beim genaueren Hinsehen erkennt der Betrachter die unzähligen Narben auf vielen der abgelichteten jugendlichen Körpern. Doch es gibt auch innere Narben. Weber und seine Mitarbeiter gelangten im Gespräch mit den Straßenkindern von den äußerlichen allmählich zu den inneren Narben. In
Landau sollen sich nun auch viele Schulklassen die Bilder anschauen und mehr erfahren von Minderheiten und gesellschaftlichen Realitäten, wünscht sich Bürgermeister Hans-Dieter Schlimmer.
Wochenblatt Landau, 25. Februar 2004: „Aus anderer Perspektive“
AUSSTELLUNG: Straßenkinder fotografieren ihre Welt
Erstmals präsentiert der Verein "Kulturzentrum Altstadt" eine Fotoausstellung im Frank-Loebschen Haus in Landau.
Ein gewichtiger Teil der ausgestellten Fotos wurde von Straßenkindern der kolumbianischen Millionenstadt Medellin aufgenommen. Mitarbeiter des Straßenkinderprojekts "Patio 13" - dessen Initiator Hartwig Weber, Professor für Theologie an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg ist -, hatten unter den jungen Straßenbewohnern Einwegkameras ausgeteilt und sie eingeladen, sich selbst und ihre Umgebung zu fotografieren. Auf diese Weise entstand eine beeindruckende authentische Dokumentation des Lebens auf der Straße, Zeugnisse eines "Blicks von innen", der Beobachtern von außen meist verschlossen bleibt. Die Ausstellung, die in Kolumbien und in zahlreichen deutschen Städte gezeigt wurde, weckte große Aufmerksamkeit.
Die Fotoinitiative, die Straßenkindern ermöglichte, sich selbst, ihre Welt, ihre Wünsche und Phantasien anderen darzustellen, war der Auslöser des internationalen Projekts "Patio 13", bei dem deutsche Wissenschaftler und Studenten mit Institutionen der Lehrerbildung und verschiedenen Universitäten in Kolumbien kooperieren. Finanziert wird das langjährige Vorhaben von der Heidelberger Druckmaschinen AG. Sein Ziel ist es, eine Brücke zwischen der Schule und der Straße, zwischen Lehrern und Straßenkindern zu schlagen. Denn die obdachlosen Minderjährigen, die den Schutz ihrer Eltern und Familien verloren haben, brauchen nicht nur Nahrung, medizinische Hilfe und Kleider, sondern auch eine Grundbildung als unabdingbare Voraussetzung für eine bessere Zukunft.
Auf den Straßen Medellins lernen Studierende der Pädagogik aus Deutschland und Kolumbien, mit den entwurzelten, drogenabhängigen und kriminellen Kindern und Jugendlichen umzugehen. Sie entwickeln eine "Pädagogik der Straße", die die besonderen Erfahrungen, Fähigkeiten und Interessen der Straßenkids berücksichtigt. Gleichzeitig entstehen Materialien und Medien für den Unterricht zum Thema "Dritte Welt" für Schulen in Deutschland. Innerhalb des Projekts "Patio 13" - nähere Informationen unter www.patiol3.de - wurden bisher drei Filme produziert. Es entstand das Buch "Narben auf meiner Haut. Straßenkinder fotografieren Straßenkinder", edition buechergilde (24.90 Euro) und Büchergilde Gutenberg (19.90 Euro) sowie pädagogisches und didaktisches Material.
Derzeit richten Projektmitarbeiter in Medellin einen Computerraum für Straßenkinder ein. Die Alphabetisierung macht gute Fortschritte in einer eigens hergerichteten Druckwerkstatt. Gleichzeitig wird - erstmals in Südamerika und vielleicht sogar weltweit - an zentralen Universitäten und Lehrerbildungseinrichtungen in Kolumbien der Studiengang "Pädagogik des Kindes und Jugendlichen der Straße" eingeführt.
Hamburger Morgenpost, 17. Februar 2004: „Wenigstens ein Mal in Pose werfen können“
Von Henning Sauerland
Die Schau »Narben auf meiner Haut« im ver.di-center
Auf den Straßen der kolumbianischen Millionenstadt Medellin leben über 30000 Kinder und Jugendliche in erschreckender Armut. Diese Kinder, oft straffällig und drogensüchtig, sind in ständiger Todesgefahr. Einer der wenigen Treffpunkte dieser Kinder, der ihnen Sicherheit und einen sauberen Schlafplatz bietet, ist der „Patio Don Bosco". Er wird vom Projekt „Patio 13 - Schule für Straßenkinder" geführt, dessen Leiter Sor Sara Sierra Jaramillo und Hartwig Weber im Jahr 2002 die Kinder ermutigten, mittels einer Fotoausstellung über sich selbst zu berichten. Morgen wird die Ausstellung „Narben auf meiner Haut" im ver.di-center am Besenbinderhof eröffnet.
afür verteilten die Leiter Einwegkameras an Kinder im Zentrum Medellins. Die Sorge, dass die Kameras an der nächsten Straßenecke verscherbelt würden, erwies sich als unbegründet: Die Aussicht auf ein Foto von sich selbst erschien zu verlockend. So kamen die meisten Kameras schon nach zwei Tagen zurück - mit vollen Filmen. Diese Fotos sind ein authentischer Bericht über das Seelenleben der Straßenkinder, zeigen nicht nur das Elend der Lebensverhältnisse, sondern auch Porträts in Pose geworfener Freunde. So waren die Fotos in ihrer Entstehung auch nicht für den späteren Ausstellungsbesucher gedacht, sondern nur, um sich selbst wenigstens ein Mal auf einem Foto betrachten zu können.
Taz Nord Hamburg, 16. Februar 2004: „Überleben ist alles“
Von Marco Carini
,,Narben auf meiner Haut" - eine Fotoausstellung von Straßenkindern aus Kolumbien eröffnet im ver.di-Center
Die Abgebildeten verharren in inszenierten Posen, doch ohne künstliches Pathos. Die Narben, die das Leben auf der Straße, das Überleben zwischen Gewalt, Drogen und Prostitution hinterlassen hat, sind überall sichtbar: in den Gesichtern, der Körperhaltung und auf der Haut. Medizinisch verheilte, seelisch nicht heilbare Wunden, die wie Trophäen hergezeigt werden. Lebensspuren von Straßenkindern aus der kolumbianischen Metropole Medellin.
Das Buch und die gleichnamige, heute im ver.di-Center eröffnende Ausstellung „Narben auf meiner Haut - Straßenkinder fotografieren sich selbst" legen davon Zeugnis ab. Die kolumbianische Pädagogin Sor Sara Sierra Jaramillo initierte vor knapp drei Jahren gemeinsam mit dem Heidelberger Theologen und Pädagogen Hartwig Weber das Projekt ,,Patio 13" in Medellin, eine Schule fiir Straßenkinder. Als die beiden einigen ihrer Schützlinge vorschlugen, einander zu fotografieren, befürchteten sie, dass die ausgehändigten Einwegkameras an der nächsten Straßenecke für ein paar hundert Pesos verhökert werden würden.
Doch fast alle Apparate kamen - voll geknipst - zurück. Ein Foto von sich selbst zu besitzen bedeutet, einen Beleg der eigenen Existenz in den Händen zu halten. Es verleiht im Angesicht des jederzeit erwarteten Todes dem Augenblick Dauer.
Das durchgängige Thema der Fotos, von denen jetzt knapp 50 im ver.di-Center am Besenbinderhof and ab dem 23. Februar in den benachbarten Ausstellungsräumen der Bülchergilde gezeigt werden, ist der Triumph des bloßen Überlebens. Gerade darum gehen die Gedanken weit weg. ,,Das wäre mein Wunschtraum, auf dem Land zu leben in einem kleinen Dorf, weit weg, in einem kleinen Häuschen“, sagt Marcela in dem Buch.
Den Traum „ein normales" Leben nach bürgerlichen Mittelstandsidealen zu fiihren, vermitteln auch die Bilder. Authentischer als schriftliche Berichte vermögen die Fotos einen unmittelbaren Ausschnitt aus individuellen Welten zu vermitteln - weil die Amateurfotografen sie fiir sich selbst geschossen haben, ohne Gedanken an ein Publikum außerhalb des eigenen Gesichtsfeldes. Diese Authentizität ist bedrückend - ein Eindruck, der sich verstärkt, wenn man erfährt, das viele der Abgebildeten die zwei Jahre, die seit dem Fotoshooting vergangen sind, nicht überlebt haben.
Beklemmungen aber soll es heute, wenn Hartwig Weber die Ausstellung eröffnen und einen Überblick über die Lage der Straßenkinder in Kolumbien und das Projekt „Patio 13" geben wird, nicht geben. Dafiir wird schon die in Hamburg lebende Soul und Rockmusikerin Ghee Diakhate sorgen, die den Abend musikalisch begleitet.
Glaube und Leben, Bistum Mainz, 15. Februar 2004: „Sieh die Narbe, hör die Geschichte“
Von Ruth Lehnen
Ein Buch über Straßenkinder in Kolumbien
Das ist noch gar nichts", sagen die Straßenkinder, angesprochen auf ihre Narben. Und sie verweisen auf die schlimmere, die von einem Messerstich stammt, oder von einer Schießerei, oder von einer Verletzung aus der frühen Kindheit. Indem sie von ihren Narben erzählen, sprechen sie von sich selbst, von ihrer Geschichte, von dem, wie sie wurden, was sie sind: Überlebende eines Kampfes, aus dem meist nur die Drogen eine kurze, qualvoll bezahlte Flucht bieten. Kinder, die den Tod jeden Tag vor Augen haben, denen es schwerfällt, über den nächsten Tag hinauszudenken.
Von diesen Kindern und Jugendlichen aus Medellin, Kolumbien, erzählt das Buch „Narben auf meiner Haut. Straßenkinder fotografieren sich selbst". Es ist eine Art Bilderbuch, aber auch ein Projektbericht, lässt einerseits die Straßenkinder und -jugendlichen zu Wort kommen, aber bietet auch die Hintergrundinformationen eines Sachbuchs. Autoren sind der Professor an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, Hartwig Weber, und die kolumbianische Salesianerin Schwester Sara Sierra Jaramillo.
Die beiden hatten eine wunderbare Idee. Sie verteilten Einwegkameras an die Straßenkinder und gaben ihnen damit die Möglichkeit, sich selbst und ihre Welt abzubilden. Für die meisten war es die erste Berührung mit dem Zaubermedium Fotografie. Und es faszinierte sie: Sie machten ganz andere Bilder von sich als sie zum Beispiel Journalisten machen, sie versuchten, sich und ihre Behausungen so schön wie möglich ins Bild zu bringen. Ihre Bilder zeigen den Triumph des Überlebens in einer von Gewalt beherrschten Umgebung.
Die Ausstellung, die aus den Bildern werden sollte und die jetzt auch ihren Weg durch deutsche Städte angetreten hat, interessierte diese Kinder nicht: Sie konnten nicht wissen, ob sie dann noch leben würden. Aber das Festhalten der momentanen Situation reizte sie: Das Foto hält die Zeit fest und beglaubigt, dass man da gewesen ist.
Doch die Fotos der Straßenkinder machen nur den geringeren Teil der Fotos in diesem Band aus. Weit mehr Bilder stammen vom Autor Hartwig Weber, was deutlicher hätte gekennzeichnet werden sollen.
Die Nacht überstehen
Für den Betrachter der deutschen Ausgabe des Buches haben die Fotos - die von Weber wie die der Kinder selbst - etwas von einer Flaschenpost. Sie kommen von weither über das Meer der Informationen, aus einer Welt, die gefährlich und fern ist. Jemand ist in Not, sehen wir: Wir sehen die Narben, den greisenhaften Mund eines Jugendlichen ohne Zähne, sehen immer wieder den gelben Kleber, die Droge, deren giftige Dämpfe helfen, die Nacht und den Hunger zu überstehen. Die Flaschenpost kommt an: Ein sehr bewegendes Buch über Gewalt, sexuelle Misshandlung, Ausbeutung und Elend, das von der Politik zum Teil noch befördert wird, und über den Trotz und die Freude, am Leben zu bleiben.
Die Autoren Hartwig Weber und Schwester Sara haben das Projekt „Patio 13 - Schule für Straßenkinder" gestartet. Es geht darum, eine Pädagogik zu entwickeln, die den Bedürfnissen der Straßenkinder entspricht, die von den normalen Schulen nicht mehr erreicht werden. Dabei arbeiten deutsche und kolumbianische Pädagogen und Studenten zusammen. Die Bilder und Informationen zu diesen Plänen lassen hoffen: dass es für Marcela, Luchito, Pedro und Erica noch einen Ausweg geben kann.
RZ Koblenz , 12. Februar 2004: "Narben auf der Kinderhaut "
Von Peter Karges
Buchautor Hartwig Weber bei Heimes: Straßenkinder porträtiert
KOBLENZ. Die Perspektive verwirrt, weil sie von innen kommt: 100 Einwegkameras hat Hartwig Weber, Hochschulprofessor in Heidelberg, an Straßenkinder im kolumbianischen Medellin verteilt, damit diese sich und ihren Alltag porträtieren. Zusammengetragen hat er die Bilder im Buch „Narben auf meiner Haut - Straßenkinder fotografieren sich selbst", das er in der Buchhandlung Heimes vorstellte.
Ein Werk, das vor allem Würde vermittelt, denn neben den Elend gibt es auch Blicke voller Hoffnung. „Als wir den Kindern die Einwegkameras gaben, rechneten wir eigentlich kaum mit irgendeiner Resonanz. Der erste Gedanke war: Wahrscheinlich werden sie sie an der nächsten Ecke verhökern, um für das Geld Drogen zu kaufen. Doch die Straßenkinder porträtierten wirklich ihren Alltag und vor allem: Sie waren stolz endlich ein Bild von sich zu besitzen", erzählt Weber.
Das Fotografieren war dabei nur ein Teil des Projekts „Patio 13 - Schule für Straßenkinder“, das der an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg lehrende Professor zusammen mit seiner Mitstreiterin Sor Sara Sierra Jaramillo vorn Orden der Salesianer leitet. „In Kooperation mit Studenten aus Kolumbien und Heidelberg versuchen wir, mit ,Patio 13' Schulunterricht für Straßenkinder anzubieten. Denn nur durch Bildung haben sie überhaupt eine kleine Chance, aus denn Elend heraus zu kommen", betont Weber.
Nicht im übertragenen Sinne zu verstehen, ist der Titel „Narben auf meiner Haut". „Wenn man das Vertrauen der Straßenkinder gewinnt, reden sie sehr schnell über sich und ihre Narben, die die Brutalität des Alltags widerspiegeln. Narben von Gewehrkugeln, Verkehrsunfällen, Messerstechereien oder Schlägereien sind Teil ihrer Lebensgeschichte", weiß Weber. Dabei unterscheiden sich die Vorstellungen der Kinder und Jugendlichen nicht sehr von denen Gleichaltriger hier zu Lande. „Die Mehrheit will einen Beruf erlernen und eine Familie gründen", unterstreicht Weber. Dass ihnen die Verhältnisse dazu oftmals keine Chance lassen - auch davon erzählt das in einfühlsamer Sprache verfasste Buch.
Um so wichtiger ist deshalb eine schulische Bildung, zumal Straßenkinder ihren Altersgenossen an Intelligenz in nichts nachstehen. „Wir haben bei ,Patio 13' beispielsweise festgestellt, dass Straßenkinder häufig viel besser und schneller rechnen als andere Kinder", meinte Weber bei der von der Katholischen Hochschulgemeinde (KHG) mitorganisierten Buchpräsentation.
Drei Fragen: „Dritte Wett wird nicht vergessen"
P.K.: Arbeitslosigkeit sowie Renten- und Gesundheitsreform scheinen hierzulande alles in den Hintergrund zu drängen. Haben wir die Dritte Welt vergessen?
H.W.: Ich denke, es ist ein ganz normaler Vorgang, dass man bestrebt ist, sich nicht noch mehr aufzubürden. Allerdings würde ich nicht sagen, dass wir die Dritte Welt vergessen haben. Allein schon die Tatsache, dass mein Buch über die Straßenkinder in Medellin sofort auf der Bestsellerliste der Büchergilde Gutenberg stand, zeigt, dass es Interesse gibt.
P.K.: Wie gewinnt man das Vertrauen der Straßenkinder?
H.W.: Am Anfang ist das sehr schwierig. Straßenkinder sind unheimlich ängstlich und nervös, nicht zuletzt weil so genannte Todesschwadronen auch Jagd auf sie machen. Und auch untereinander ist die Atmosphäre nicht selten aggressiv. Wenn man allerdings einmal ihr Vertrauen gewonnen hat, dann fühlt man sich sicher wie in Abrahams Schoß.
P.K.: Wer mit Straßenkindern arbeitet, ist mit sehr viel Elend konfrontiert. Wie gelingt es Ihnen, nicht zu verzweifeln?
H.W.: Das ist in der Tat ein Problem, auch wenn bei einem pädagogischen Projekt wie „Patio 13" die Bindung nicht ganz so eng ist wie bei einem karitativen. Hierbei kann es nur individuelle Lösungen geben.
Rhein-Neckar-Zeitung, 21. November 2003: "Mit der Kamera durch die Slums von Medellín"
Professor Hartwig Weber gibt Straßenkindern in Kolumbien eine Zukunft durch Bildung - Sein Buch „Narben auf meiner Haut" erzählt davon
Von Ingeborg Salomon
Auf den Straßen der südamerikanischen Millionenstädte leben viele Kinder und Jugendliche in ständiger Todesgefahr. Medellin in Kolumbien ist so eine Stadt, wo das Leben der Straßenkinder geprägt ist von Armut und dem Kampf ums tägliche Überleben, von Prostitution und Bandenkämpfen, aber auch von Hoffnungen und Sehnsüchten. Zugang zu diesen Kindern zu finden ist nicht leicht, zu groß ist oft ihr Miss
trauen. Hartwig Weber, promovierter Theologe und seit 1977 Professor an der Pädagogischen Hochschule, ist es gelungen, in der Welt dieser Kinder ein Stück mitzuleben.
Gemeinsam mit Sor Sara Sierra Jaramillo, einer kolumbianischen Ordensschwester, hat er vor drei Jahren das Projekt „Patio 13 - eine Schule für Straßenkinder" gestartet, finanziell unterstützt von den Heidelberger Druckmaschinen. Dabei wurden die Kinder gebeten, über sich selbst und ihr Leben zu berichten und mit einer Einwegkameras Fotos zu machen, die in einer viel beachteten Ausstellung bereits in der Print Media Academy gezeigt wurden (die RNZ berichtete). Jetzt ist daraus ein wunderschönes und sehr eindrucksvolles Buch entstanden. „Narben auf meiner Haut" ist gerade in der Edition Büchergilde und gleichzeitig bei der Büchergilde Gutenberg erschienen.
„Authentischer als schriftliche Berichte vermögen Fotos eine unmittelbare Vorstellung über die Welt anderer Menschen zu vermitteln", schreibt Professor Weber in seinem Buch. Was haben die Straßenkinder Medellins fotografiert? Sich selbst natürlich, doch wer nun Fotos von elenden, traurigen Gestalten erwartet, sieht sich überrascht. Ihre Fotos zeugen nicht von Selbstmitleid, sie wollen kein Mitgefühl erwecken und sind auch kein moralischer Appell. Es sind seltsam,zurückhaltende Fotos, die den Betrachter darum umso stärker berühren. Alle Bilder sind nicht bearbeitet oder geschnitten, die Ausschnitte sind so geblieben, wie die jungen Fotografen sie gewählt haben. Gerade deshalb ziehen sie den Betrachter ins Bild hinein.
Da ist zum Beispiel Marcela, die mit bauchfreiem Top und chicer Sonnenbrille in einer Mauernische posiert; verführerisch lächelt sie, Madonna lässt grüßen. „Als wir Marcela fragten, ob sie mit ihren Fotos an unserer Ausstellung ein halbes Jahr später teilnehmen wolle, war sie erst völlig verständnislos", berichtet Professor Weber. Ein halbes Jahr im
Voraus zu denken, überforderte sie, und die Situation in Kolumbien sollte ihr Recht geben. Wenig später forderten die Todesschwadrone im Zuge einer „sozialen Säuberung" die Straßenkinder auf, die Stadt zu verlassen; auch Marcela musste fliehen.
„Kolumbien ist gefährlich, das sagen wir auch allen Studenten, die in unserem Projekt ein Praktikum machen wollen", weiß Weber, der selbst Mitte der 70er Jahre am Erziehungsministerium in Bogota als Leiter eines Bildungsprojekts arbeitete. Regelmäßig fliegt er nach Kolumbien, um das Schulprojekt für Straßenkinder weiter auszubauen. „Bildung ist für diese Kinder der Schlüssel zur Zukunft", so der Pädagoge. Damit die Straßenkinder den Anschluss an die modernen Medien nicht verpassen, richtet das Projekt gerade einen Computerraum ein.
Nächstes Jahr soll in Medellin ein Kurs für Lehrer, Studierende und pädagogische Fachkräfte beginnen, der sich speziell mit der Straßenkinder-Thematik beschäftigt, auch ein Magister-Studiengang ist geplant, alles mit kräftiger Unterstützung der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Eine Studierende, Bettina Ehrlich, hat gerade vor Ort ihre Zulassungsarbeit über das Projekt geschrieben.
Obwohl Weber im Laufe seines Berufslebens schon über ein Dutzend Bücher geschrieben hat, ist sein jüngstes Werk etwas ganz besonderes für ihn. „Es ist wirklich wunderschön geworden und liebevoll ediert", freut er sich. Auf der Bestseller-Liste der Büchergilde Gutenberg steht „Narben auf meiner Haut" bereits auf Platz vier, eine spanische Ausgabe ist gerade in Vorbereitung, ebenso eine italienische.
Die Rheinpfalz, 31. Oktober 2003: "Blick aus dem Elend - Kolumbianische Straßenkinder zeigen ihre Welt mit selbst fotografierten Szenen"
Von unserer Redakteurin Tatjana Stegmann
Gewalt, Verbrechen, Drogen, Prostitution - tausendfach mit mitleidsvollem Auge von außen betrachteter Alltag von Straßenkindern überall auf der Welt. Ein menschlicher, doch sehr verstellter, da voreingenommener Blick auf das Elend verlorener Existenzen in den Gossen von Großstädten und Metropolen. Sie selbst ernst zu nehmen, sie zu bitten, ihr Leben aus ihrer eigenen Sicht zu zeigen, ist ein sehr ungewöhnlicher, sehr mutiger Ansatz, den der aus Neustadt stammende und an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg lehrende Professor Hartwig Weber gewagt hat.
Innerhalb seines Projektes „Patio 13 - Schule für Straßenkinder", bei dem in Zusammenarbeit zwischen kolumbianischen und Heidelberger Studenten Methoden entwickelt werden sollen, Unterricht für Straßenkinder anzubieten, startete er gemeinsam mit Studentinnen und Studenten in Medellin jenes Fotoprojekt: Die angehenden Lehrer verteilten unter Kindern der Straße rund 100 Einwegkameras.
Die Ergebnisse waren derart überwältigend, derart beeindruckend in ihrer schlichten Ehrlichkeit, in ihrer besonderen Aussage, dass Weber und seine Mitstreiterin Sor Sara Sierra Jaramillo (Direktorin der beteiligten kolumbianischen Schule für Lehrerausbildung „Escuela normal Superion Maria Auxiliadora") sie in einem eben in der Edition Büchergilde erschienenen Buch veröffentlichten. Die farbigen, teilweise grellen Fotos voller Leben, kontrastierend mit viel Schwarz in dem Buch, fangen den ersten Blick des Lesers ein: Das Cover zeigt einen vielleicht achtjährigen Jungen, der in selbstbewusster Pose eine Kamera vors Auge hält. Sein aufgeblähter Bauch zeugt von Mangelernährung, die Narben darauf von unvorstellbarer Gewalt gegenüber Kindern. „Narben auf meiner Haut - Straßenkinder fotografieren sich selbst" ist denn auch der Titel des mit feinem Gespür und einfühlsamer, doch nicht auf die Tränendrüsen der Leser gerichteter Sprache verfassten Buches.
Die Narben sind es auch, die oft ersten Anlass geben, miteinander ins Gespräch zu kommen. Denn auf sie angesprochen, so die Erfahrung der Studenten, überwinden die Straßenkinder leichter ihr Misstrauen und ihre Angst gegenüber Fremden. Anhand ihrer Verletzungen definieren sie sich, können anschaulich machen, was sie in ihrem kurzen Leben bereits er- und überlebt haben, zeigen ihren unerschütterlichen Willen, mit all ihren Fähigkeiten, mit ihren Erfahrungen und ihrem Wissen den nächsten Tag zu erleben - nicht in Selbstmitleid zerfließend, sondern voller Hoffnung und manchmal sogar voller Ausgelassenheit. Das Gespräch über die Narben lehrte die Pädagogen sehr viel über die Einstellungen und Wünsche der Straßenkinder - unabdingbare Voraussetzung, um ein pädagogisch sinnvolles Konzept speziell für sie zu entwickeln.
Die Kontaktaufnahme zu Menschen, die in einer ganz anderen Wirklichkeit leben als sie selbst, forderte auch die jungen Studenten, die zuvor niemals mit ähnlich erbärmlichen Verhältnissen konfrontiert worden waren, in ungeheurem Maße heraus und führte unter den Studenten zu vielen Diskussionen.
Trotz allen Elends, das sich im Hintergrund der 9o Bilder widerspiegelt, zeigen die Fotos vor allem eines: den Willen der Kinder, sich so würdevoll als möglich zu zeigen. Sie lenken nicht den Blick auf ihre vielleicht ausweglos wirkende Situation, sondern auf sich selbst, auf die kleinen Menschen.
Ein Bildband, der unter die Haut geht.
Hessische Allgemeine (HNA), 27. September
2003: "Zu Gast in Kassel: Hartwig Weber"
Kolumbien gilt als das klassische Land der Straßenkinder.
Umso wichtiger ist es, dass es Menschen gibt, die helfen. Hartwig
Weber gehört zu diesen Menschen. Der Professor für evangelische
Theologie und Religionspädagogik an der Universität
Heidelberg entdeckte bereits in den 70er-Jahren seine Liebe für
Südamerika und widmete seitdem einen Großteil seiner
Arbeit den Menschen in den Slums von Kolumbien.
Im Jahr 2001 rief er das Projekt ,,Patio 13" ins Leben, das
einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Lebenssituation der
kolumbianischen Straßenkinder leistet. Dabei steht jedoch
nicht die Versorgung der Kinder mit Lebensmitteln oder Kleidung
im Vordergrund. Vielmehr sollen die Kinder Bildung erhalten, die
ihnen hilft, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und auf
längere Sicht etwas in ihrem Leben zu erreichen. Um die Idee
einer ,,Schule auf der Straße" zu verwirklichen, initiierte
Hartwig Weber ein Austauschprojekt, an dem sich die Universität
Heidelberg und Universitäten in Kolumbien beteiligen. Deutsche
Lehramts-Studenten können für mehrere Monate im Rahmen
eines Praktikums in den Straßen von Kolumbien direkt mit
betroffenen Kindern arbeiten und theoretisches Wissen mit praktischen
Erfahrungen verbinden. Jetzt war Prof. Dr. Hartwig Weber zu Besuch
im Kasseler Ludwig-Noll-Krankenhaus, um sein Projekt vorzustellen
und eine Foto-Ausstellung zu eröffnen, die auf beeindruckende
Weise die Situation der kolumbianischen Straßenkinder zeigt.
Die Kinder fotografierten sich selbst in ihrer täglichen
Umgebung und geben dem Betrachter einen Einblick in ihre eigene
Welt. Begleitend zur Ausstellung ist ein Buch mit dem Titel ,,Narben
auf meiner Haut" (Edition Büchergilde, Frankfurt) erschienen,
das Fotos und Interviews mit den Kindern enthält.
Prof. Dr. Hartwig Weber hat mit ,,Patio 13" einen Weg gefunden,
den Straßenkindern Hoffnung zu machen: ,,Ein Projekt wie
dieses ist wichtig, um den Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen
und die Probleme der Dritten Welt den Menschen bewusster zu machen."
TEXT UND FOTO: PAMELA SOMMER
Ausstellung noch bis zum 29. Oktober im Ludwig-Noll-Krankenhaus,
Dennhauser Strafle 156, montags bis frei-tags von 16-18, samstags
und sonntags von 15-18 Uhr.
Büchergilde: "Faszinierende
Kinder, die eine ungeheure Vitalität haben!" Interview
mit Hartwig Weber über sein Fotoprojekt mit Straßenkindern
und soziale Missstände in Kolumbien
Worum geht es in Ihrem Buch "Narben auf meiner Haut"?
Das Buch soll Menschen, die offen sind für Probleme, die
die ganze Welt betreffen, mit dem Thema Straßenkinder konfrontieren.
Dieses Thema ist für mich gewissermaßen ein "Abholthema".
Es schließt die Menschen auf - emotional, persönlich,
weil alle Menschen Kinder haben oder einmal Kind waren. Plötzlich
stehen sie der Tatsache gegenüber, dass Kinder in einer anderen
Situation, in einer anderen Welt völlig anders leben müssen.
Dass sie zwar die gleichen Interessen und Wünsche haben,
aber ganz andere Lebensbedingungen. Wenn man das weiß, möchte
man natürlich wissen, was da noch los ist, wie es kommt,
dass Kinder unter diesen Bedingungen leben, und was die Gründe
dafür sind. Das heißt: Wenn wir erreichen können,
dass sich Menschen hier mit der Situation dort auseinandersetzen,
dass kann man davon ausgehen, dass sie auch von den politischen,
wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen das eine oder
andere wissen wollen. Deshalb führt das Buch über das
Thema Straßenkinder hinaus auch in globalere Fragestellungen
und Probleme ein.
Können Sie etwas zu Ihrer Co-Autorin sagen?
Sor Sara Jaramillo ist Nonne und Direktorin einer Lehrerbildungseinrichtung,
der Escuela Normal Superior in Copacabana, und sie ist gleichzeitig
Direktorin aller Lehrerbildungseinrichtungen, aller "Normales"
in Kolumbien.
Mit ihr und über sie versuchen wir zu erreichen, dass in
die Lehrerbildung das Thema Straßenkinder-Pädagogik
eingeführt wird. Es gibt viele Projekte, viele Ansätze,
viele Programme, die sich mit Straßenkindern beschäftigen
- alle karitativ. Unser Ansatz aber ist pädagogisch, weil
wir glauben, dass diese Straßenkinder nicht nur durch Essen,
Kleidung und Gesundheitsfürsorge am Leben erhalten werden
müssen, sondern sie sollen auch ein bessere, menschenwürdigere,
offenere Zukunft haben, und das gelingt nur durch Bildung.
Ihr Engagement in Kolumbien begann ja schon viel früher?
Ich war in den Siebzigerjahren im Erziehungsministerium Kolumbiens
tätig für die Reform der Lehrerausbildung. Ich habe
damals, außerhalb meiner Arbeit, in Slums gearbeitet und
bin schließlich viel später auch auf das Problem der
Straßenkinder gestoßen. Als ich aus Kolumbien zurückkam
und hier eine Professur angenommen habe, lag es nahe, das Thema
weiter zu behandeln. Meine Studenten waren sehr interessiert,
und eines Tages haben sie zu mir gesagt: "Warum reden wir
immer nur theoretisch über die Probleme in Kolumbien, fahren
wir doch hin und machen was!" Daraus ist am Ende das "Projekt
Patio 13" mit dem Buch "Narben auf meiner Haut"
entstanden.
Ein Patio ist ein Ort, wo die Kinder hingehen können, nachdem
sie die Nacht auf der Strasse verbracht haben. Dort können
sie sich ausschlafen, können sich waschen, bekommen etwas
zu essen, können spielen, können reden, können
ihre Wunden ausheilen lassen, die sie sich in der Nacht zugezogen
haben.
Wie kommt es zu dem Titel Narben auf meiner Haut?
Das Sprechen über die Narben, die sie auf der Haut haben,
drängt sich eigentlich auf. Erstens haben alle Straßenkinder
Narben, diese Narben etwas ganz Typisches für sie und drücken
aus, dass sie permanent einer enormen Gewalt ausgesetzt sind.
Zweitens: Sie erzählen sehr gerne, wo sie sich diese Narben
zugezogen haben, und wenn man ihr Vertrauen gewonnen hat, dann
braucht man ihnen eigentlich nur zuhören und erfährt
dann sehr viel über ihre äußeren und inneren Narben
und damit über ihr Leben, ihre Einstellungen, ihre Wünsche.
Warum wählten Sie die Fotografie für Ihr Projekt?
Man kann den Kindern nicht die eigenen Vorstellungen überstülpen,
sondern muss sie erst kennen lernen, muss verstehen lernen, was
sie wollen und was sie brauchen. Mit den Fotoapparaten konnten
wir sie einfacher fragen: "Sagt ihr mal, wer ihr seid, wie
empfindet ihr euch, und welche Perspektiven habt ihr?" Darüber
hinaus hat das Fotografieren gegenüber dem bloßen Reden
den Vorteil, dass man viel schneller viel mehr zeigen und ausdrücken
kann. Gerade für Kinder, die nicht so eloquent sind und manchmal
nicht schreiben können. Es ist eine einfachere, emotionalere
und umfassendere Art, sich auszudrücken.
Wir haben 100 Einwegkameras an die Straßenkinder ausgeteilt
und gesagt, sie sollen uns doch Bilder bringen. Allerdings dachten
wir, sie würden sie nie zurückbringen, würden sie
verhökern an der nächsten Ecke, aber das war falsch.
Erstaunlicherweise haben wir etwa 80 % der Kameras wieder bekommen.
Waren sie überrascht, welche Motive sie bekommen haben?
Ja! Ich glaube, dass es einen großen Unterschied gibt zwischen
dem, was Straßenkinder, die sich selbst zeigen wollen, fotografieren,
und dem, was wir aufnehmen würden. Unsere Art zu fotografieren
ist sehr an Vorurteilen orientiert. Straßenkinder hingegen
wählen Situationen, die für sie schön sind, geordnet
sind, die zeigen, was sie können. Sie sind meist sehr fröhlich.
Sie zeigen sich nie mit Drogen, sie zeigen nicht den Dreck, sie
zeigen ihre cambuches, ihren Behausungen aus Stoff, aus
Pappe und Blech, und sie zeigen, wie schön sie sie eingerichtet
haben. Sie zeigen nicht, was schief geht, sondern was ihnen gelingt.
Einige Kinder liegen Ihnen besonders am Herzen?
Ja, das ist unumgänglich. Im Laufe der Zeit kommt man sich
nahe. Das spiegelt sich auch in dem Buch. Die abgebildeten Fotos
zeigen u.a. zwei junge Frauen: Marcela (24) und Erika (15). Marcela
war, als das Projekt begann, mein erster Kontakt auf der Straße,
und sie ist bis heute dabei geblieben. Von ihr und Erika hört
der Leser da mal etwas, dort mal etwas, und auf diese Art und
Weise kann er sich mit zwei ausgewählten Personen näher
identifizieren.
Sie haben bei ihrem letzten Besuch in Kolumbien versucht,
Marcela wieder zu finden?
Zurzeit ist sie im Gefängnis. Das Buch endet damit, dass
ich vergeblich nach ihr suche. Zu dem Zeitpunkt, im März
dieses Jahres, habe ich geglaubt, sie seit tot, weil wir an allen
möglichen Stellen ohne Erfolg nach ihr gesucht haben. Zuvor
hatten wir erreicht, dass sie von einem Straßenkinderprojekt
in Bucaramanga aufgenommen werden würde. Es ist sehr schwer,
jemanden, der über 20 Jahre alt ist, in einem Projekt unterzubringen,
noch dazu eine Frau mit zwei Kindern. Aber wir hatten es geschafft.
Kurz darauf war sie trotzdem weg, wie vom Erdboden verschluckt.
Dann musste ich abreisen. Als ich einige Wochen hier war, kam
die Nachricht, sie sei wieder aufgetaucht, und man habe sie in
einem Programm für Straßenkinder untergebracht. Aber
dann hat sie Konflikte bekommen, hat rebelliert und sich schließlich
erneut aus dem Staub gemacht. Sie hat es nicht ausgehalten –
das ist symptomatisch für viele Straßenbewohner. Kurz
darauf wurde sie beim Verkauf von Drogen festgenommen und kam
ins Gefängnis.
In Ihrem Buch schreiben Sie, Straßenkinder hätten
ganz erstaunliche mathematische Fähigkeiten?
Man stellt oft fest, dass diese Kids große Begabungen haben,
dass sie intelligent und künstlerisch begabt sind –
wie andere Kinder auch. In unserem Projekt machen wir auch kleinere
Forschungen. Wir versuchen zunächst herauszufinden, was die
Eigenarten der einzelnen Kinder sind, was ihre Überlebensstrategien
und Techniken. Dabei stellen wir fest, dass sie eine eigene Art
zu lernen haben und eine eigene Art zu rechnen. Kinder in der
Schule rechnen anders und bekommen Mathematik auf eine andere
Art beigebracht. Straßenkinder vollziehen eigene mathematische
Operationen, und im Vergleich stellt man fest, dass sie besser
und schneller rechnen. Vielleicht hängt das damit zusammen,
dass das Rechnen davon motiviert ist, ihr Überleben zu sichern,
was ja bei Kindern in der Schule weniger der Fall ist.
Sie haben mittlerweile auch eine Druckerwerkstatt eingerichtet.
Welche Idee steckt dahinter?
Um Dinge zu fördern, haben wir zweierlei eingerichtet: Erstens
eine Druckerwerkstatt. Das ist ganz neu, ist jetzt im August erst
angelaufen. Die Straßenkinder lernen dort, ihren Namen,
den Namen ihrer Freundin oder wichtige Botschaften mit beweglichen
Lettern zu drucken. Einer hat zum Beispiel ein Liebesgedicht für
seine Freundin gedruckt. Zweitens: Wir treffen zurzeit Vorbereitungen
für die Einrichtung eines Computerraumes, damit Straßenkinder
die Möglichkeit haben, wie Kinder überall auf der Welt,
im Internet zu surfen.
Kann man die Verhältnisse dort auch auf Deutschland
übertragen?
Ja und nein. Man kann ja sagen, dass das Phänomen Straßenkinder
früher eine Art Symbol war für arme Entwicklungsländer,
für die Dritte Welt. Das hat sich in den letzten Jahren gründlich
geändert, nachdem es Straßenkinder in vielen industrialisierten
Ländern, sogar in Deutschland, gibt. Damit hatten wir nie
gerechnet. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen Straßenkindern
in Deutschland und Straßenkindern in Kolumbien, aber auch
Gemeinsamkeiten. Auf jeden Fall gibt es die Notwendigkeit, sich
auch hier damit auseinanderzusetzen. Vielleicht kann man in Deutschland
von den Erfahrungen in einem Land wie Kolumbien auch profitieren,
weil es dort dieses Phänomen schon seit dreihundert Jahren
gibt: Es wird seit langer Zeit beobachtet, und es gibt viele Programme
und Erfahrungen, wie man mit Straßenkindern umgehen kann.
Politische Verhältnisse in Kolumbien, Bürgerkrieg,
Drogenkartelle, Perspektive für die Zukunft?
Es gibt einen neuen Präsidenten, und viele Kolumbianer verbinden
mit Alvaro Uribe eine große Hoffnung. Er ist so etwas wie
eine letzte Hoffnung, auch für viele Intellektuelle und sogar
Linke. Zunächst ist von Verbesserung noch sehr wenig zu spüren,
es gibt fast wöchentlich neue Massaker und Konflikte mit
der Guerilla. Auf der anderen Seite bessert sich die Situation
auf dem Land. Bevor Uribe sein Amt angetreten hat, konnte man
nicht aus den Städten herausfahren, weil die Situation so
gefährlich war und man damit rechnen musste, dass man angehalten
und entführt wurde. Uribe hat in spektakulären Aktionen
die Straßen wieder sicher gemacht. Solche kleinen Fortschritte
gibt es.
Wen wollen Sie mit Ihrem Buch erreichen?
Ich will mit den verschiedenen Materialien Bewusstseins-Veränderungsprozesse
einleiten und den Leuten sagen: "Ihr lebt hier in Frankfurt
oder in Heidelberg nicht im Zentrum der Welt, die Welt ist größer,
die Verflechtungen sind profunder und unsere Verantwortung für
Situationen, die nicht so gut sind wie hier bei uns, die ist gegeben."
Heute redet man viel weniger über die Dritte Welt. Es ist,
als wären die Probleme der sogenannten Dritten Welt gelöst,
als wären die Wirtschaftsbeziehungen nicht genauso ungerecht
wie früher. Darauf, auch wenn das Thema derzeit keine Konjunktur
hat, permanent hinzuweisen, ist wichtig. Und es gelingt schon,
den einen oder anderen Zeitgenossen anzustoßen, wachzurütteln
und zu informieren.
Was können wir von den Kindern lernen?
Es sind faszinierende Kinder, die eine ungeheure Vitalität
haben. Die Lebensumstände sind denkbar misslich, gefährlich
und menschenunwürdig. Die Kinder aber lachen, sind fröhlich
und haben eine ungeheuer lebendige Zukunftshoffnung. Das ist schon
erstaunlich. Sie haben eine große Kraft und Kreativität
und Vitalität. Man kann sehr vieles von ihnen lernen. Und
überhaupt: Kolumbianer sind wunderbare und anregende Menschen.
Sie lieben offenbar das Land Kolumbien?
Das ist so eine Sache, wissen Sie. Man redet stundenlang über
Elend, Not und Armut, aber das ist nur die eine Hälfte der
Wahrheit. Die andere Hälfte - das ist die Schönheit
dieses Landes, die kulturelle Vielfalt, die vielen attraktiven
Seiten. Wenn ich mit meinen Studenten nach Kolumbien gehe, dann
müssen die auch ans Meer zum Baden fahren, müssen auch
kolumbianisch essen und müssen auch Abende mit Tanz und Musik
erleben. Das gehört mit zur Realität des Lebens in Kolumbien.
Das Land ist sehr ambivalent, aber man kann nicht nur im Elend
waten und dann denken, man hätte schon irgendetwas verstanden.
(Das Gespräch führte Jürgen Sander)
„Patio 13“ - Biographie
und Erfahrung
in ihrer Bedeutung für eine Didaktik und Methodik der Straßenkinderarbeit.
Interview mit Prof. Dr. Hartwig Weber, Heidelberg
Die besonderen Bedingungen und Entwicklungen von Straßenkindern
sind Anlass und Ausgangspunkt des vorgestellten Projektes „Patio
13“. In einem Interview wird der Leiter des Projektes, Dr.
Hartwig Weber, Professor für Evangelische Theologie an der
Pädagogischen Hochschule Heidelberg, zu Hintergründen
der von ihm mit initiierten „Straßenkinderpädagogik“
gefragt. Das Interview mit Prof. Dr. Hartwig Weber (HW) wurde
geführt von Prof. Dr. Barbara Methfessel (BM).
BM: Herr Weber, Sie setzen sich in Ihrem Projekt
für besondere Maßnahmen zur Bildung von Straßenkindern
ein. Bevor wir darauf eingehen, wie man die spezifische Biographie
von Straßenkindern berücksichtigen kann, möchte
ich gerne wissen, was es denn an typischen biographischen Mustern
gibt, die die Entwicklung von Straßenkindern prägen.
HW: Es gibt so eine Art „Straßenkinder-Modellkarriere“,
die man in den Entwicklungsländern entdecken kann, wenn man
eine gewisse Anzahl von Straßenkinderbiographien miteinander
vergleicht: Im Hintergrund steht immer die Familiengeschichte.
Meist kommen die Familien der Kinder, die auf der Straße
landen, aus ländlichen Regionen. Von dort hat man sie vertrieben,
nachdem sie, unschuldig und wehrlos, in die bewaffneten Auseinandersetzungen
zwischen Guerilla und paramilitärischen Gruppen, Heer und
Mafia geraten waren. Nun legen sie in verschiedenen Etappen eine
beschwerliche Wanderschaft zurück, die irgendwann einmal
- nach wenigen Tagen, langen Monaten oder gar erst nach Jahren
- irgendwo in einer Stadt endet: in der Hoffnung, dass sie dort
ein neues Leben beginnen können. Tatsächlich finden
die Vertriebenen eine Unterkunft oder Bleibe bestenfalls in den
Slums, die ohnedies schon überquellen von Flüchtlingen.
Dort in den Elendsvierteln der großen Städte erleben
die „campesinos“ (Bauern) einen regelrechten Kulturschock.
Meist finden die Männer keine Arbeit. Die aussichtslose Situation
erzeugt Frustration und Aggression. Viele Väter resignieren
unter der übergroßen Belastung, sie greifen zum Alkohol,
misshandeln Frauen und Kinder, machen sich schließlich aus
dem Staub. Die Kinder leiden unter den Verhältnissen am meisten.
Die verlassenen Frauen suchen sich neue Männer, Partner,
Ernährer, meist mit wenig Erfolg. Die Kinder erleiden unterschiedlichste
Formen der Gewalt, auch sexueller Gewalt; offenbar werden sehr
häufig die Mädchen von ihren Stiefvätern bzw. wechselnden
Liebhabern der Mütter missbraucht. Man schickt die Kinder
auf die Straße, damit sie mithelfen, ihre Familien zu unterhalten.
Gewalt und Ausbeutung bewegen sie schließlich dazu, sich
immer weiter von ihren Familien zu entfernen. Sie übernehmen
Gelegenheitsarbeiten, betteln, stehlen. Mit der Zeit merken sie,
dass es leichter für sie ist, ganz auf der Straße zu
bleiben. Der Kontakt mit den Eltern bricht dann meist ab.
BM: Wie können denn Kinder alleine auf der
Straße überleben?
HW: Allein auf sich gestellt, schaffen sie das
nicht. Sie suchen Anschluss an andere Kinder und Jugendliche,
an „eine „gallada“ (Gruppe). Es ist oft nicht
leicht, in eine Gruppe hinein zu kommen. Jungen müssen zeigen,
dass sie etwas leisten – dass sie erfolgreich betteln oder
stehlen können. Mädchen werden mitunter in einer Art
Initiationsritus kollektiv vergewaltigt; dann finden sie, wenn
sie Glück haben, einen Beschützer, dem sie zu Diensten
sind. Die Gruppe gewährt ihnen Unterstützung, Hilfe,
soziale Wärme. Sie gehen freundlich miteinander um, teilen,
was sie bekommen. Aber im Drogenrausch fallen sie auch unvermittelt
übereinander her. So gut wie alle Straßenkinder nehmen
Drogen, insbesondere schnüffeln sie „pegante“
(Kleber) oder rauchen „basuco“ (Abfallprodukt bei
der Kokainherstellung). Das hilft, die Kälte der Nacht, den
Hunger und die Angst zu überstehen. Je älter Straßenkinder
werden, umso mehr entwickeln sie sich in eine kriminelle Richtung.
Um die über Achtzehnjährigen kümmert sich so gut
wie niemand. Sie werden abgeschrieben. Meist leben Straßenkinder
nicht lange. Ihre einzige Chance besteht darin, in eines der zahlreichen
Hilfsprogramme hinein zu kommen und dieses erfolgreich zu absolvieren.
Das ist ein langer, mühsamer und oft erfolgloser Weg.
BM: Das hört sich deprimierend an. Wenn
ich dann an eine ‚Schule für Straßenkinder’
denke, frage ich, kann Schule diese Kinder denn überhaupt
noch erreichen? Haben die überhaupt noch ein Interesse an
Schule, wenn sie sich eigentlich in diesem Leben auf der Straße
eigentlich schon eingerichtet haben?
HW: Das Leben auf der Straße ist nicht
nur deprimierend. Für die Kinder bedeutet, von zu Hause weggehen,
auch einen Akt des Aufbegehrens und der Befreiung - die Straße
lockt. Dort herrschen Freiheit, dauernder Wechsel, pulsierendes
Leben. Darüber kann man die tatsächliche Bedrohung und
Gewalt durchaus manchmal vergessen.
Mit der Schule wollen Straßenkinder meist nichts zu tun
haben. Sie haben dort schlechte Erfahrungen gemacht. Zunächst
brauchen sie eine unmittelbar praktische Hilfe: Essen, Kleider,
einen Platz, um auszuschlafen, medizinische Versorgung, wenn sie
krank werden, unter ein Auto geraten sind, einen Messerstich abbekommen
haben.
BM: Und wie kann man diese Kinder für so
etwas wie Schule gewinnen?
HW: Sie wollen zwar keine herkömmliche Schule,
aber sie wollen Lernen. Denn sie merken, dass davon ihre Zukunft
abhängt. Die Frage für uns lautet deshalb: Wie kann
man sie dabei unterstützen? Wie müsste Lernen, wie Pädagogik,
Erziehung, „Schule“ aussehen, um bei ihnen und für
sie etwas Sinnvolles auszurichten? Denn eines ist gewiss: Bildung
kann ihnen zwar keine bessere Zukunft garantieren, aber ohne sie
werden sie garantiert keine Chance haben, einen Beruf und ein
Auskommen zu finden.
In diesem Zusammenhang muss ich darauf hinweisen, dass es in Kolumbien
seit einiger Zeit einen neuen Typ von Straßenkind gibt.
Der unterscheidet sich vom traditionellen „gamin“
(wie man dort sagt) fundamental. Der eskalierte Bürgerkrieg,
der inzwischen über 2 Millionen Kolumbianer in die Flucht
getrieben hat, spült immer mehr Kinder und Jugendliche auf
die Straße. Die Kinder waren für kürzere oder
längere Zeit bereits in der Schule gewesen, und sie können
unterschiedlich gut lesen und schreiben; die Ausbildung mussten
sie abbrechen. Diese Kinder sind noch nicht so stark kriminalisiert,
gewalttätig und drogenkrank wie die normalen „gamines“.
Ihnen muss rasch geholfen werden. Denn sie passen sich schnell
ans Leben der anderen Kinder auf der Straße an. Mit verhältnismäßig
wenig Einsatz und Mitteln lässt sich viel bei ihnen erreichen.
Je länger es aber dauert, bis für sie etwas getan wird,
umso schwieriger wird es.
BM: Welches Verhältnis zum Lernen hat denn
diese neue Generation von Straßenkindern?
HW: In ihrem kurzen Leben haben die Flüchtlingskinder
und Jugendlichen sehr unterschiedliche, oft tragische Erfahrungen
gemacht. Sie haben gelernt, wie man sich durchschlägt. Sie
sind oft überaus stark und kreativ. Aufs Lernen angesprochen,
zeigen sie durchweg großes Interesse. Das Problem besteht
weniger in ihrem Willen zu lernen als darin, dass es keine Schule
gibt, die ihnen entspricht. Eine Schule für Straßenkinder
müsste ihre besonderen Erfahrungen, Fähigkeiten, Interessen
und Defizite berücksichtigen. Das birgt natürlich viele
Probleme in sich. Wie soll man Lernen organisieren, wenn die Schüler
ganz unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen, unregelmäßig
kommen, heute hier, morgen dort sind, in mancher Hinsicht langsamer,
in anderer viel schneller als „normale“ Kinder voran
kommen?
BM: Haben Sie dafür schon Antworten gefunden?
HW: Man muss die besondere Potenz der Kinder
und Jugendlichen erkennen und darauf aufbauen. Konkret ausgedrückt:
Im Rahmen dessen, was für sie notwendig ist, sind Straßenkinder
hervorragende Rechner. Wir haben dies überprüft und
festgestellt, dass sie mathematische Aufgaben schneller und besser
lösen als gleichaltrige Schulkinder. Dabei wenden sie interessanterweise
andere Methoden an als die, die in der Schule gelehrt werden.
Für die Studentinnen, die an unserem Projekt „Patio
13“ beteiligt sind, war dies eine erstaunliche Erkenntnis:
Die erfolgreichen mathematischen Strategien der Straßenkinder
stellen die mathematische Didaktik und Methodik in Frage, die
in der Lehrerausbildung vermittelt und in der Schule praktiziert
wird. Wenn wir nun also Lernprozesse in Mathematik für Straßenkinder
anstoßen, knüpfen wir an die Inhalte und Methoden an,
die auf der Straße praktiziert werden.
Vergleichbares gilt fürs Lesenlernen. Straßenkinder
können unterschiedlich gut lesen, viele sind Analphabeten;
aber auch sie erkennen Hinweisschilder auf der Straße und
Symbole der Reklame. Von dem aus, was sie im praktischen Leben
lesen möchten, können Lernprozesse ausgehen.
BM:. Wir kennen die Problematik des Lesenlernens
zum Beispiel auch von Immigranten bei uns. Sie kennen natürlich
Markennamen und damit Wortbilder - und raten. Diese Fähigkeit
verhindert, dass sie jemals richtiges Lesen lernen. Es fehlt das
sinnentnehmende Lesen und analytisch-synthetische Verstehen.
HW: Also, ich bin kein Fachmann auf diesem Gebiet
und kann nur sagen, dass wir in dieser Sache auf die durchaus
analytische Methode der Druckwerkstatt setzen: In dem Patio (Treffpunkt),
wo wir eine Gruppe von Straßenkindern regelmäßig
treffen, bauen wir eine solche Werkstatt auf und arbeiten mit
beweglichen Lettern. Dabei gehen wir davon aus, dass die Beteiligten
Begriffe und kleine Texte schreiben und lesen lernen, die für
ihre Lebenssituationen von grundlegender Bedeutung sind. Dieses
Vorhaben beginnt Anfang nächsten Jahres. Bis dahin werden
auch einfache Lesehefte produziert, die sich für unsere Straßenschüler
eignen.
BM: Es geht also darum, Grundlagen zu schaffen
und diese dann zu erweitern mit neuen Methoden, die an die Erfahrungen
der Straßenkinder anknüpfen?
HW: Ja. Außer Lesen, Schreiben und Mathematik
erscheint mir ein Lernstoff wichtig, den es in der normalen Schule
so eigentlich überhaupt nicht gibt, jedenfalls ist er nicht
so deutlich abgegrenzt: eine Materie, die wir auf Spanisch als
„concientización“ („Bewusstseinsbildung“)
bezeichnen: Dabei geht es um ein Wissen um die eigene Lebensgeschichte,
ein Bewusstwerden der eigenen Erfahrungen und Leistungen, das
zu einem stabileren Selbstbewusstsein führen soll. Das hat
für mich durchaus eine humanistische, philosophische, womöglich
auch religiöse Dimension.
Als praktische Methode wie auch als Forschungsstrategie haben
wir dafür ein einfaches und plausibles Vorgehen entwickelt:
die Verbalisierung der Erfahrungen des Körpers. Wir haben
gemerkt, dass Straßenkinder sehr gerne über ihre Narben
sprechen. Sie zeigen ihre Haut, deuten mit dem Finger auf ihre
Narben: „Schau mal, was ich da habe!“ Und daran schließen
sich Berichte, Erzählungen und Gespräche an, die um
zurückliegende Erfahrungen, Abenteuer, Notlagen, Heldentaten
und überstandene Bedrohungen kreisen. Die Narben auf der
Haut sind eine geheimnisvolle Schrift, die nur die Kinder selbst
lesen können. Der Körper als Chronologie des Lebens
wird zum Inhalt und Gegenstand der Betrachtung und Darstellung.
Dabei stellt sich ein gemeinsames Erstaunen ein über das,
was diese Kinder geleistet haben – Grund genug, darauf stolz
zu sein. Auf der Basis dieses Stolzes kann dann die Frage nach
der Zukunft gestellt werden: „Was will ich eigentlich?“
„Was muss ich in der Gesellschaft lernen und leisten?“
„Wie soll es weitergehen?“ Das, was alle Straßenkinder
wollen, ist, die Lebensqualität zu verbessern. Sie wollen
auch gesellschaftliche Verantwortung übernehmen, es geht
ihnen um mehr Teilhabe. Aber dies setzt eben Lernen voraus.
BM: Aber dieses Gespräch über die Narben
- das heißt doch für die Lehrkräfte, dass sie
fast eine therapeutische Ausbildung brauchen. Selbstbewusstsein
zu schaffen, als Voraussetzung für weitere pädagogische
Maßnahmen wäre ein therapeutischer Schritt, oder?
HW: Ein einfaches Gespräch mit Kindern über
das, was sie erlebt haben, kann in gewisser Weise bereits einen
Hauch von Therapie haben. Ob der, der sich auf ein solches Gespräch
einlässt, dies weiß oder nicht, ist dabei ziemlich
belanglos. Dass ein Kind von der Straße einmal frei erzählen
darf und dass jemand da ist, der ihm zuhört, ist eine außergewöhnliche
Erfahrung. Wer wendet sich diesen Kindern schon zu? Sie sind von
Zuhause weggelaufen, weil dort niemand für sie gesorgt hat
oder sorgen konnte. Sie wurden geschlagen, sind angeschrieen worden;
aber niemand hat mit ihnen gesprochen. Und jetzt hören sie
plötzlich: „Also das, was du da erzählst und was
du erlebt hast, das ist ja wirklich bemerkenswert! Wie hast du
diese Gefahr und jene Bedrohung nur überlebt?!“ Die
Tatsache allein, dass jemand mit dem jungen Straßenbewohner
zusammensitzt, ihm zuhört, mit ihm spricht, mag schon einen
kleinen heilenden Effekt haben.
Ich will ja nicht in Abrede stellen, dass eine zumindest rudimentäre
psychologische Ausbildung von Nutzen ist, wenn man mit Straßenkindern
zu tun hat. Lehrer haben diese Kenntnisse durchaus. Dies ist meine
Utopie: Lehrer und Studenten, die einmal Lehrer werden wollen,
sollen für die Straßenkinderarbeit gewonnen werden.
Denn das psychologische, didaktische und methodische Know how
für die Straßenkinderarbeit ist an Schulen, Pädagogischen
Hochschulen und in den Erziehungswissenschaftlichen Fakultäten
der Universitäten durchaus vorhanden. Nur gibt es bisher
keine Brücke zwischen der Schule und der Straße, der
Pädagogischen Hochschule und den Straßenkindern. Diese
Brücke herzustellen, ist das Ziel unseres Projektes „Patio
13“. Eigentlich sollte diese Aufgabe nicht allzu schwer
zu realisieren sein. Sie ist bisher einfach noch nicht ernsthaft
in den Blick gefasst worden.
BM: Wenn ich mich richtig erinnere, gibt es doch
schon Straßenpädagogen in Kolumbien mit beachtlichen
Fähigkeiten und Konzeptionen?
HW: Jede Woche gehen Studentinnen, die in der
Escuela Normal Superior „María Auxiliadora“
in Copacabana (Kolumbien) zu Lehrerinnen ausgebildet werden, zwei
Mal in einen Patio und treffen dort Straßenkinder, mit denen
sie spielen, Gespräche führen, lesen, schreiben und
naturwissenschaftliche Aufgaben lösen. Der Leiter dieses
Straßenkindertreffs hat als Kind selbst einmal auf der Straße
gelebt. Heute hilft ihm die eigene Erfahrung, einen Zugang zu
Straßenkindern zu finden. Ich sehe, dass er seine Sache
besonders gut macht. Auch in anderen Straßenkinderprojekten,
die ich kenne, gibt es jungen Leute, die das Programm, in dem
sie jetzt arbeiten, zunächst einmal selbst durchlaufen haben
– als ehemalige Straßenbewohner. Die eigene Biografie
kommt ihnen jetzt bei der Erziehung von Straßenkindern zu
gute.
BM: Die Pädagogik-Studentinnen des Projekts
„Patio 13“ kommen ja wohl aus einem ganz anderen sozialen
Milieu. Ist es da nicht eine ungeheure Herausforderung für
sie, mit solchen Kindern umzugehen?
HW: Die Studentinnen, die mit uns arbeiten, kommen
meist aus bescheidenen, ja oft armen Verhältnissen. Mit Straßenkindern
waren sie aber früher nie in Kontakt gekommen. Ernsthaft
haben sie sich mit diesem Problem nie auseinandergesetzt. Es ist
ja in Kolumbien nicht üblich, sich um Straßenkinder
zu kümmern, wenn man in bürgerlichen Verhältnissen
lebt und ein sicheres Auskommen hat. Anfangs waren die Mädchen
ziemlich besorgt, sie hatten Angst vor den schmutzigen, aggressiven
Straßenbewohnern. Inzwischen hat sich das gründlich
geändert. Wenn sie die Kids treffen, begrüßen
sie sich mit Gelächter und Umarmungen. Bleiben die Studentinnen
einmal aus, so ist die Enttäuschung groß. „Was
ist denn los?“ „Wann kommen die denn wieder?“
Die Studentinnen haben, wie sie selbst versichern und in ihren
Projekttagebüchern auch deutlich ausführen, wichtige,
neue, ja persönlich umwälzende Erfahrungen gemacht.
Vermutlich sind diese Erfahrungen auch für ihre sonstige
pädagogische Ausbildung, Didaktik, Methodik und Praxis wichtig.
Sie werden fähiger, ihren üblichen Schulalltag zu hinterfragen,
zu verändern und zu verbessern. Die normale Schule und der
konventionelle Unterricht werden von der Straßenkinderpädagogik
und -didaktik bereichert.
BM: Hier schließt sich für mich natürlich
auch direkt die Frage an, ob für uns in Deutschland etwas
aus diesen Erfahrungen zu lernen ist. Es sind ja auch Studierende,
Dozentinnen und Dozenten der Pädagogischen Hochschule Heidelberg
in das Projekt involviert.
HW: Das Projekt „Patio 13“ ist gleichzeitig
auf Kolumbien und auf Deutschland hin orientiert. Wir, die wir
an der Hochschule lehren, und unsere Studentinnen und Studenten
erfahren dort in unabweisbarer Klarheit, dass wir, zumindest statistisch
gesehen, in Deutschland und erst recht in Heidelberg keineswegs
im Mittelpunkt der Welt leben. Viel mehr Menschen als wir müssen
Verhältnisse verkraften, die denen in Kolumbien ähnlich
sind. Studenten und Studentinnen der Pädagogischen Hochschule
Heidelberg gehen in Stellvertretung ihrer zukünftigen Schüler
in ein Entwicklungsland. Nach ihrer Rückkehr werden sie vermutlich
andere Lehrer werden, als wenn sie zu Hause geblieben wären.
Das ist eine große Chance für sie und für ihre
Schüler.
Darüber hinaus werden in dem Projekt „Patio 13“
Medien, Lernmaterialien und Unterrichtsvorschläge entwickelt,
die Lehrern in Deutschland helfen können, ihren Unterricht
über diese wichtige Thematik besser und interessanter zu
gestalten. Selbstverständlich ist auch unsere Arbeit als
Lehrende der Hochschule von diesem Engagement geprägt. Wir
bieten Seminare, Vorlesungen und Praktika zum Thema Straßenkinder
an. Studentinnen und Studenten schreiben Wissenschaftliche Hausarbeiten
darüber, werten die Praktika aus, die sie in Kolumbien durchgeführt
haben, und die ersten beginnen bereits mit Promotionsvorhaben
im Rahmen des Projektes.
BM: Ich danke Ihnen für das Gespräch.
"Die Rheinpfalz", 27.
Januar 2003:
Straßenkinder und ihre Blicke auf sich selbst
- Die Heidelberger Ausstellung „Auslöser“
Von unserem Redaktionsmitglied Sonja Weiher
Große unsicher blickende Augen, trotzig empor gestreckte
Mittelfinger, eng aneinandergeschmiegte Körper unter Wolldecken
am Straßenrand – die Fotos der Ausstellung „Auslöser
– Straßenkinder fotografieren Straßenkinder“,
die derzeit im Foyer der Print Media Academy der Heidelberger
Druckmaschinen AG gezeigt werden, berühren durch ihre Authentizität.
„Wir wollen den Kindern nicht unsere Ideen aufdrücken,
sondern uns auf ihre Sichtweise einlassen“, sagt Hartwig
Weber, Dozent der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und
Leiter des Projektes „patio 13“, einer Bildungsinitiative
für Straßenkinder in Kolumbien. Bilder seien ein gutes
Kommunikationsmittel. „Sie geben uns die Möglichkeit,
dem Blick der Kinder zu folgen und uns ihre Sicht zu eigen zu
machen“. Am Anfang des Projektes stand deshalb eine Fotowerkstatt,
deren Ergebnisse nun in Heidelberg zu sehen sind. Mit Einwegkameras
haben Straßenkinder aus Medellin, einer Millionenstadt im
Zentrum Kolumbiens, sich selbst und ihre Umgebung fotografiert.
Die Bilder geben einen offenen, manchmal bedrückenden, oft
aber auch überraschend positiven Einblick in den Alltag der
Kinder.
„Für Straßenkinder sind Fotografien von sich
selbst etwas ganz besonderes“, erläutert Weber, der
„patio 13“ als ersten Schritt zu einer neuen pädagogischen
Disziplin, einer „Straßenkinderpädagogik“,
sieht. Seine Kollegin in Kolumbien, Schwester Sara, die in Copacabana
die „Escuela Normal Superior“ leitet, eine Modellschule
für die Ausbildung von Lehrern, ergänzt, dass es für
künftige Lehrer unerlässlich sei, die „Kultur
der Straße“ zu kennen. Ein Ansatz, der bisher in Kolumbien
vernachlässigt werde.
„Bildung ist der Schlüssel zur Verwirklichung von
Lebensträumen“, sagt Hartwig Weber und ist deshalb
von der Wichtigkeit und Wirksamkeit von „patio 13“
überzeugt. Die Fotowerkstatt sei ein positives Signal, dass
es möglich ist, das Schicksal in die Hand zu nehmen.
Manche der Lebensträume zeigen die Kinder auf ihren Fotografien.
Es sind die kleinen Dinge, die anrühren: ein schüchterner
Kuss vor der Kamera, eine schäbige, aber mühevoll-sorgfältig
eingerichtete Hütte, die akribische Morgentoilette in der
Kloake von Medellin. Der große Wunsch nach Normalität
– trotz allem.
Mannheimer Morgen, 21. Januar 2003:
Straßenkinder sehen ihren Alltag durch
den Sucher - Foto-Ausstellung in der Heidelberger Print Media
Academy stellt pädagogisches Projekt vor
Von Simone Jakob
Heidelberg. Eine kleine Einwegkamera hilft kolumbianischen Straßenkindern
von ihrem Alltag zu erzählen, der sich nur schwer in Worten
ausdrücken lässt: Die Ausstellung "Auslöser
- Straßenkinder fotografieren Straßenkinder",
die ab morgen in der Print Media Academy der Heidelberger Druckmaschinen
zu sehen ist, nimmt den Betrachter mit in die Slums der Millionenstadt
Medellin. Diese fotografische Selbstdarstellung der Kinder und
Jugendlichen ist der Ausgangspunkt des Modellprojekts "Patio
13", das die Pädagogische Hochschule Heidelberg (PH)
mit Unterstützung der "Heidelberger Druckmaschinen"
in Kolumbien entwickelt.
"Patio 13 will verlassenen und verwaisten Kindern durch
Bildung die Chance auf ein besseres Leben geben", erklärt
PH-Professor Hartwig Weber, der das Forschungsvorhaben betreut.
Die Frage, wie sich Schule und Lehrer dem Phänomen Straßenkinder
gegenüber verhalten sollen, sei der Ausgangspunkt von "Patio
13" gewesen. Mithilfe engagierter Studenten bauen Weber und
seine kolumbianische Kollegin Sor Sara Sierra Jaramillo jetzt
Brücken zwischen Lehrern und Straßenkindern: "Schon
im nächsten Jahr wird es hier einen Studiengang "Straßenpädagogik"
geben, der auch auf andere Länder in Südamerika und
Afrika übertragen werden soll.
"Derzeit arbeiten Studenten aus Heidelberg und Medellin
zwei Mal pro Woche im Zentrum "Don Bosco" mit den Kindern.
Neben Spielen, Basteln und Malen stehen auch Schreiben, Rechnen,
Lesen und Sozialkunde auf dem freiwilligen Stundenplan. "Die
Arbeit in Medellin war sehr spannend und ich habe jetzt richtig
Heimweh nach Kolumbien", erzählt Bettina Ehrlich. Die
22-jährige PH-Studentin hat fünf Monate in der Millionenstadt
verbracht und will im August wieder nach Südamerika, um mit
den Kindern im Don Bosco-Zentrum eine Druckwerkstatt einzurichten.
Die Ausstellung in Heidelberg bedeutet Studenten und Betreuern
sehr viel: "Die Bilder drücken die Kultur der Straßenkinder
aus und zeigen, wie sie ihre Stadt sehen", sagt Sor Sara
Sierra Jaramillo. "Sie konfrontieren den Betrachter so mit
sehr persönlichen Schicksalen", findet Weber. "Denn
die Kinder zeigen nur das, was sie wirklich von sich preisgeben
möchten."
"Auslöser - Straßenkinder fotografieren Straßenkinder",
22. Januar bis 8. Februar, Print Media Academy, Kurfürsten
Anlage 52-60, Heidelberg. Eröffnung mit Dokumentarfilm morgen,
17.30 Uhr. Infos zum Straßenkinder-Projekt "Patio 13"
unter: www.patio13.com.
Rhein-Neckar-Zeitung, 21. Januar
2003:
Jede Narbe erzählt vom Kampf ums Überleben
– Ausstellung-„Auslöser“ in der Print Media
Academy dokumentiert Straßenkinder-Projekt der PH in Kolumbien
– Morgen ist Vernissage
Von Ingeborg Salomon
Ihre Haut ist voller Narben, und diese Verwundung erzählt
von Schlägen, Messerstichen und Gewehrkugeln; zu jeder Narbe
können die Straßenkinder von Kolumbien eine Geschichte
erzählen. Auch die Fotos, die zurzeit in der Print Media
Academy zu sehen sind, erzählen Geschichte vom Kampf, Gewalt
und Elend, aber auch vom Überleben unter lebensbedrohlichen
Umständen. „Auslöser“ heißt die Ausstellung
des Gemeinschaftsprojekts „Patio 13 – Schule für
Straßenkinder“, das die Heidelberger Druckmaschinen
AG und die Pädagogischen Hochschule (PH) gestartet haben;
morgen um 17:30 Uhr wird es offiziell eröffnet.
Die Bilder, die von den Kindern selbst mit Einwegkameras fotografiert
wurden, zeigen eindruckvolle Motive aus dem Alltag, in dem Armut
und Not ebenso vorkommen wie Zärtlichkeit und Fröhlichkeit.
Für die Kinder ist es eine außergewöhnliche Erfahrung,
ihren Alltag durch die Linse einer Kamera verfremdet zu sehen.
„Ein Foto drückt aus, was die Kinder auch erzählen
können, aber mit der Kamera fällt es ihnen leichter“,
weiß der Professor der Theologie und Religionspädagogik
Hartwig Weber, der das Straßenkinder-Projekt an der PH initiiert
hat. Früher war Weber im Erziehungsministerium Kolumbiens
tätig; seit Jahren reist er mit PH-Studierenden nach Bogotá
und Cartagena, um in Straßenkinder-Projekten zu arbeiten.
Mit der kolumbianischen „Escuela Normal Maria Auxiliadora“
nahe der Millionenstadt Medellin verbindet die Heidelberger eine
lebendige Partnerschaft. Rektorin Sor Sara Sierra, die fünf
Jahre in den Elendsvierteln von Medellin gearbeitet hat, ist zur
Ausstellungseröffnung nach Heidelberg gekommen; die Straßenkinder
liegen ihr sehr am Herzen, haben sie doch sonst keine Lobby.
„Sie Fotos sind ein Blick auf das Innenleben der Kinder“,
erzählt Bettina Ehrlich der RNZ. Die PH-Studentin hat fünf
Monate in Kolumbien mit den Straßenkindern gearbeitet.
Viele haben ihre Familien verlassen, weil sie dort so exzessive
Gewalt erfahren haben, dass ihnen nur die Flucht auf die Straße
blieb. Doch nun brauchen diese Kinder eine Chance, sie sollen
ihre Lerndefizite überwinden. Doch mit „normaler“
Didaktik ist das nicht möglich.
Bettina hat mit den Straßenkindern in Medellin gemalt,
gebastelt und fotografiert, bevor sie mit ihnen in der Schuldruckwerkstatt
erste Schritte in Richtung Alphabetisierung erarbeitet hat. Das
Projekt „Patio 13“ ist auf vier Jahre angelegt, doch
Professor Weber ist sicher, dass es auch danach weitergehen wird.
Zurzeit arbeitet er mit Studenten daran, Lernmaterialien für
Straßenkinder zu erstellen; ein eigener Studiengang „Straßenpädagogik“
ist geplant.
Die Heidelberger Druckmaschinen unterstützen „Patio
13“ finanziell und beratend. „Das Projekt ist eng
mit unserem Standort Heidelberg verbunden, es dient dem interkulturellen
Austausch, arbeitet nachhaltig und vermittelt Wissen“ nennt
Simone Wessely wichtige Kriterien für das Sponsoring. Und
ihre Kollegin Barbara Conradi ergänzt: „Genau wie der
PH ist auch uns die Alphabetisierung ein wichtiges Anliegen.“
Die Ausstellung „Auslöser – Straßenkinder
fotografieren Straßenkinder“ ist bis 8. Februar montags
bis freitags von 9 bis 18 Uhr, samstags von 9 bis 16 Uhr zu sehen.
Die Vernissage ist morgen um 17.30 Uhr, anschließend wird
um 18.45 Uhr der Dokumentarfilm „Mondstraße, Sonnenstraße“
gezeigt. Informationen unter www.patio13.com.
"Mannheimer Morgen",
5. Februar 2002:
Heidelberger Studenten unterrichten Straßenkinder
in Südamerika
Bundesweit einzigartiges Modellprojekt der Pädagogischen Hochschule
- holt das Klassenzimmer in die Slums
Von Simone Jakob
"Warum reden wir nur über Kolumbien und fahren nicht einfach hin?"
Mit dieser Frage brachten neugierige Studenten eine fantastische
Freundschaft auf den Weg. Denn heute pflegt die Pädagogische Hochschule
Heidelberg eine lebendige Partnerschaft mit der kolumbianischen
"Escuela Normal Maria Auxiliadora" nahe der Millionenstadt Medellin
und hat dort das bislang einmalige Projekt "Schule für Straßenkinder"
gestartet.
Betreut wird das Forschungsvorhaben von dem Heidelberger Religionswissenschaftler
und Pädagogen Professor Hartwig Weber. "Bis heute hat sich niemand
in Südamerika die Frage gestellt, wie sich Schule und Lehrer dem
Phänomen Straßenkinder gegenüber verhalten sollen", erklärt Hartwig
Weber im Gespräch mit unserer Zeitung.
"Unser Projekt Patio 13 will verlassenen und verwaisten Kindern
in den Slums durch Bildung die Chance auf ein besseres Leben geben."
Mit Unterstützung der "Heidelberger Druckmaschinen" haben Weber
und sein Team ein Modellprojekt entwickelt: "Wir können die Situation
der Kinder nur verbessern, wenn wir ihre Lebensumstände kennen,
deshalb sollen sie sich selbst zu Wort melden und über ihren Alltag,
ihre Probleme mit Gewalt und Drogen sowie über ihre Hoffnungen
berichten.
Um authentische Einblicke zu bekommen, werden die sechs bis 14
Jahre alten Kinder als Fotografen alles im Bild festhalten, was
ihnen wichtig ist", erklärt Weber.
Und hier kommen die Studenten ins Spiel: Im "Patio Don Bosco",
einer Einrichtung für Straßenkinder, versuchen angehende Lehrer
aus Heidelberg und Medellin, mit den Kindern in Kontakt zu kommen.
Und weil das nicht einfach ist, hilft Weber seinen Studenten via
E-Mail. Manche Betreuer leben mit den Straßenkindern in Einrichtungen
wie dem Don Bosco-Zentrum zusammen, um das Eis zu brechen. Später
ziehen Kinder und Helfer mit Einwegkameras durch die Slums, schreiben
gemeinsam Berichte und gestalten eigenen Unterricht. Dazu wird
auf der Straße eine kleine Schule eingerichtet.
Aus den Bildern und Texten wird eine Ausstellung zusammengestellt,
die in Kolumbien und in Deutschland zu sehen ist. Das Projekt
ist auf vier Jahre angelegt und soll in der Schlussphase auch
auf andere Länder übertragen werden.
"Die PH hat Kontakte zu Hochschulen in 30 Ländern und wir haben
schon jetzt Interessenten aus anderen südamerikanischen Ländern
und Afrika", freut sich Weber über den guten Start.
Im März fliegt er mit seinen Mitarbeiterinnen Stefanie Klaiber
und Anne Schmehl nach Kolumbien. Die beiden pauken schon fleißig
spanische Vokabeln, denn "sehr gute Sprachkenntnisse sind Voraussetzung
für den Aufenthalt", betont der Professor. Auch flexibel müssen
die Helfer sein, denn ein halbes Jahr sollten sie in Südamerika
bleiben. Falls das Projekt glückt, wird es auf die 137 Universitäten
des Landes ausgedehnt. "Wenn eines Tages ehemalige Straßenkinder
selbst Lehrer werden können und andere unterrichten, ist mein
Traum wahr", sagt Weber.
Internet: www.patio13.de.
E-Mail-Kontakt: hartwig.weber@ph-heidelberg.de
© Mannheimer Morgen - 05.02.2002 -
RheinNeckarZeitung, Heidelberg:
Eine Zukunft für die Straßenkinder
Gemeinsames Bildungsprojekt von Heidelberger Druckmaschinen und
PH Heidelberg für Kolumbien
Von Ingeborg Tzschaschel
Bildung zählt neben Nahrung und Obdach zu den Grundbedürfnissen
und Grundrechten. Dennoch sind heute noch fast eine Milliarde
Menschen nicht in der Lage, ihren Namen zu schreiben, ein Formular
auszufüllen oder gar einen Computer zu bedienen. Nach Berichten
des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen UNICEF leben 20 bis
30 Millionen Kinder auf der Straße und sind in einer hoffnungslosen
Situation. Für diese Kinder ist Bildung der Schlüssel
zur Zukunft, sie ist Voraussetzung dafür, einen qualifizierten
Arbeitsplatz zu bekommen.
Ziel eines gemeinsamen Projekts der Heidelberger Druckmaschinen
AG und der Pädagogischen Hochschule Heidelberg ist es, verlassenen,
entwurzelten und verwaisten Kindern in Kolumbien durch Bildung
die Chance auf ein besseres Leben zu geben. Der Religionswissenschaftler
und Pädagoge Prof. Hartwig Weber, PH Heidelberg, und Simone
Wessely, zuständig für Sponsoring bei der Heidelberger
Druckmaschinen AG, stellten in der Print Media Academy das Projekt
"Patio 13 - Schule für Straßenkinder" vor.
Das jetzt gestartete Projekt ist Forschungsvorhaben und Praxisprojekt
zugleich und will mit seinem neuartigen Ansatz eine Brücke
zwischen Schule und Straße, Lehrerausbildung und Straßenkindern
schlagen. Die Lebenssituationen von Kindern, die auf der Straße
leben, werden untersucht, um sie verbessern zu können. Das
Projekt ist auf vier Jahre angelegt und wird von dem Unternehmen
mit mehreren Zehntausend Mark jährlich gesponsert. Professor
Weber betonte, dass die Pädagogische Hochschule Heidelberg
Kontakte zu anderen Hochschulen und Universitäten in etwa
30 Ländern unterhalte.
Dabei seien ihm Beziehungen zu Ländern der Dritten Welt besonders
wichtig. Kinder in Deutschland sollen von Kindern in'" fernen
Ländern erfahren, Studierende aus Heidelberg sollen mindestens
ein Semester im Ausland verbringen. Er selbst arbeitete von 1975
bis 1977 am Erziehungsministerium in Bogota als Leiter eines deutschen
Bildungsprojektes in der Lehrerfort- und Weiterbildung. Seit dieser
Zeit beschäftigt er sich mit den sozialen Brennpunkten in
dem südamerikanischen Land.
Unter der Leitung von Sor Sara Sierra, die dem Rat der kolumbianischen
Primar-Lehrerausbildungsstätten vorsitzt, und Hartwig Weber
arbeitet eine Gruppe von Wissenschaftlern, Straßenpädagogen
und Studierenden im Zentrum und in den Slums der Millionenstadt
Medelin. Mit Einwegkameras werden die Straßenkinder sich
selbst und ihre Umgebung fotografieren und so ihre Wirklichkeit,
Erfahrungen, Wünsche und Hoffnungen ausdrücken. Mit
den Fotos vermitteln sie authentische Einblicke in eine fremde
Welt, und mit Berichten und Erzählungen kommentieren sie
ihre Bilder. Projektziel sei es, so der Heidelberger Pädagoge,
dass die Straßenkinder die Chance erhalten, die Schule zu
besuchen. In ihrem Umfeld werden Straßeneckenschulen eingerichtet.
Pädagogik, Didaktik und Methodik werden gemeinsam mit den
betroffenen Kindern entwickelt. Ziel sei es auch, in die kolumbianische
Lehrerausbildung den neuen Studienbereich "Straßenkinderpädagogik"
zu integrieren. . Simone Wessely hob hervor, dass die Heidelberger
Druckmaschinen mit dem Projekt einen Beitrag zur Resozialisierung
und zur Alphabetisierung von Straßenkindern in Kolumbien
leisten wollen. Das innovative Bildungsprojekt der Pädagogischen
Hochschule Heidelberg hätte einen starken Unternehmensbezug
und fördere den weltweiten interkulturellen Dialog. Der Sponsor
Druckmaschinen, so Wessely, werde sein Know-how auf verschiedenen
Ebenen in das Projekt einbringen und in die Lehrlingsausbildung
integrieren.
Daktylos, April 2002:
Lebensgeschichten - in die Haut geschrieben
"patio 13 - Schule für Straßenkinder" - Projekt
der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und der Heidelberger
Druckmaschinen AG - Professoren und Studierende in den Slums der
kolumbianischen Metropole Medellín
von Ingeborg Tzschaschel
Über eine Million kolumbianischer Kinder sind von zu Hause
vertrieben worden, mehrere Millionen Menschen sind auf der Flucht.
Sie stranden in den Elendsvierteln der Städte. Immer mehr
Kinder aus den Slums landen über kurz oder lang auf der Straße,
wo sie sich als Bettler und Handlanger, Diebe, Prostituierte und
Drogendealer durchschlagen und das Gewaltpotential des Landes
vergrößern.
“Auf die Straße gehen und Kontakt mit diesen Kindern
aufnehmen - das ist ein Abenteuer, das mir immer wieder Angst
macht. Man begibt sich auf einen schwierigen Weg und kommt nur
langsam voran. Bei der ersten Begegnung sind die Kinder sehr zurückhaltend,
sie halten Distanz, beobachten einem aus der Ferne, behalten aber
alles im Blick. Ihre Angst ist allzu verständlich. Immer
wieder werden Straßenkinder aufgegriffen, verschleppt, eingesperrt,
umgebracht." So beginnt das Tagebuch eines der Mitglieder
aus dem Projekt "patio 13 - Schule für Straßenkinder",
einem Vorhaben internationaler Zusammenarbeit der Pädagogischen
Hochschule Heidelberg mit Institutionen der Lehrerausbildung in
Kolumbien, und es fährt fort: “ Trotzdem sind wir uns
bald näher gekommen, die Kinder wurden aufgeschlossener,
freundlicher. Sie wollen, dass man ihnen zuhört, wollen ihre
Lebensgeschichte erzählen, von ihren Ängsten und Plänen
berichten. Die meisten sagen, sie seien von zu Hause ausgerissen,
weil sie geschlagen worden sind. Für viele von ihnen war
das Elternhaus die Hölle. Wenn man sie schlafen sieht, zusammengerollt
wie Embryos, dann empfindet man unmittelbar, was ihnen fehlt.
Sie suchen ein Nest, eine Schulter, an die sie sich lehnen, einen
Schoß, in den hinein sie sich bergen können. Die wenigsten
wollen zurück zu ihrer Familie. Lieber sorgen sie selbst
für sich. Sie haben Waffen, Messer, Pistolen; denn sie leben
in beständiger Bedrohung. Sie haben Hunger, müssen um
Nahrung und Drogen kämpfen und ihr Territorium Tag für
Tag aufs Neue verteidigen. Das Schlimmste ist jedoch der sexuelle
Missbrauch, der hauptsächliche Grund, weshalb sie sich bewaffnen.”
Das Projekttagebuch schildert weiter, wie die Straßenkinder
in ihren Gruppen und Banden zusammenleben: “ Um überleben
zu können, sind sie aufeinander angewiesen. Sie helfen und
verteidigen sich gegenseitig. Aber urplötzlich sind sie auch
aggressiv und gewalttätig. Ständig gibt es Streit. Im
Drogenrausch fallen sie übereinander her und verletzen sich
mit Messerstichen. So gut wie alle Straßenkinder haben den
Körper voller Narben. Jede Wunde hält eine böse
Erinnerung wach. Beim Erzählen ziehen sie ihre Hemden aus,
und jede Narbe gibt Anlass zu einer neuen Geschichte. In die Haut
ist die Chronologie ihres Lebens eingeschrieben - ein erschütternder,
für Außenstehende oft unfasslicher Text." Dabei
sind die Wünsche und Ziele dieser Kinder von den Wünschen
und Zielen anderer Kinder kaum zu unterscheiden: sie wollen zur
Schule gehen, etwas lernen, eine Arbeit aufnehmen, eine Familie
gründen.
Bildung zählt neben Nahrung und Obdach zu den Grundbedürfnissen
und Grundrechten. Dennoch sind heute weltweit noch fast eine Milliarde
Menschen nicht in der Lage, ihren Namen zu schreiben, ein Formular
auszufüllen oder gar einen Computer zu bedienen. Nach Berichten
des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen UNICEF leben 20 bis
30 Millionen Kinder auf der Straße und sind in einer hoffnungslosen
Situation. Für diese Kinder ist Bildung der Schlüssel
zur Zukunft, sie ist zwar keine Garantie, wohl aber die Voraussetzung
dafür, einen qualifizierten Arbeitsplatz zu bekommen.
Die Pädagogische Hochschule Heidelberg unterhält Kontakte
zu anderen Hochschulen und Universitäten in etwa 30 Ländern.
Studierende aus Heidelberg sollen mindestens ein Semester im Ausland
verbringen, und die Kinder in Deutschland, die von den zukünftigen
Lehrern unterrichtet werden, sollen von Kindern in fernen Ländern
erfahren.
Ziel des Projekts "patio 13 - Schule für Straßenkinder",
bei dem die Pädagogische Hochschule Heidelberg mit der Escuela
Normal Superoir in Copacabana bei Medellín kooperiert,
ist es, verlassenen, entwurzelten und verwaisten Kindern der Straße
in Kolumbien durch Bildung die Chance auf ein besseres Leben zu
geben. Unterstützt wird das Vorhaben von der "Heidelberger
Druckmaschinen AG". Geleitet wird das Projekt von dem Theologen
und Religionspädagogen Prof. Dr. Hartwig Weber und der Rektorin
der Escuela Normal Superior, Sor Sara Sierra. Bei seiner Durchführung
arbeiten Angehörige verschiedener Fächer zusammen: Prof.
Manuela Welzel (Physik), Hans-Werner Huneke (Deutsch), Dr. Elmar
Breuer (Mathematik) . Simone Wessely ist Ansprechpartnerin von
Seiten der weltweit tätigen Heidelberger Druckmaschinen AG,
die mit der Unterstützung des zunächst auf vier Jahre
angelegten Bildungsprojekts jährlich einen namhaften Beitrag
zur Resozialisierung und Alphabetisierung von Straßenkindern
in Kolumbien leistet. Über das finanzielle Sponsoring hinaus
wird das Heidelberger Unternehmen sein Know-how auf verschiedenen
Ebenen der Zusammenarbeit einbringen und die Projektinhalte wie
die produzierten Lehr- und Lernmaterialien auch in die eigene
Lehrlingsausbildung integrieren, denn neben fachlichen Fähigkeiten
sollen die Lehrlinge auch soziale Kompetenzen erwerben und vertiefen.
In dem jetzt gestarteten Projekt geht es nicht nur um Forschung,
sondern auch um konkrete Veränderungen in der Praxis. Mit
seinem neuartigen Ansatz schlägt es eine Brücke zwischen
Schule und Straße, Lehrerausbildung und Straßenkindern.
Unter dieser Zielperspektive werden Lebenssituationen von Kindern,
die auf der Straße leben, untersucht und tatkräftig
verbessert. Um zu verstehen, was die betroffenen Kinder wollen
und brauchen, kommen sie selbst zu Wort: Straßenkinder der
kolumbianischen Millionenstadt Medellín stellen sich vor
mit Fotos, die sie mit Einwegkameras von sich und ihrem Lebensumfeld
aufgenommen haben. Mit ihrer Wirklichkeit können sie so ihre
Erfahrungen, Wünsche und Hoffnungen ausdrücken und authentische
Einblicke in eine für Außenstehende fremde Welt vermitteln.
Dabei wird der für dieses Thema übliche Blick von außen
(von Journalisten, von Forschern) durch einen Blick von innen,
den der Kinder selbst, ergänzt und gegebenenfalls korrigiert.
Die Bilder der Kinder sollen, begleitet von dokumentarischem Material,
bei Ausstellungen in Kolumbien und in Deutschland der Öffentlichkeit
vorgestellt und in Lehr- und Unterrichtsmaterialien verarbeitet
werden.
Unter der Leitung von Sor Sara Sierra, die auch dem Rat der kolumbianischen
Primar-Lehrerausbildungsstätten (Escuelas Normales Superiores)
vorsitzt, und Hartwig Weber arbeiten deutsche und kolumbianische
Wissenschaftler, Straßenpädagogen und Studierende aus
Heidelberg und Medellín im Zentrum und in den Slums der
südamerikanischen Metropole zusammen. Projektziel sei es,
so der Heidelberger Theologe, Straßenkindern die Chance
zu eröffnen, unterrichtet zu werden und ihre unterbrochenen
Schulkarrieren wieder aufzunehmen. Um dies zu erreichen, müsse
eine Pädagogik, eine Didaktik und eine Methodik entwickelt
werden, die Straßenkindern mit ihren Defiziten, ihren Erfahrungen,
ihren Interessen und vor allem mit ihrer besonderen Kreativität
angemessen ist. Ziel sei es auch, in die kolumbianische Lehrerausbildung
den neuen Studienbereich “Straßenpädagogik”
zu integrieren. “Am Ende”, blickt Hartwig Weber hoffnungsvoll
in die Zukunft , “könnten aus ehemaligen Straßenkindern
Studenten und aus Studenten Lehrer werden - Lehrer für Straßenkinder.”
Internet: www.patio13.de