Bericht über meinen Kolumbienaufenthalt
vom 4. August bis 4. September 2003
Zur politischen Lage
In der Halle des "Puente aéreo" in Bogotá,
wo ich auf den Anschlussflug nach Medellín warte, stehen
Fernseher herum, und dort sehen die Leute, wie ihr Präsident
Alvaro Uribe gerade die staatstragende Bedeutung des Militärs
hervorhebt und eine Handvoll Soldaten wegen ihrer Tapferkeit bei
der Bekämpfung von Terroristen und Drogenmafia auszeichnet.
Später auf der Fahrt vom Flughafen Río Negro nach
Medellín passieren wir eine Straßensperre nach der
anderben. Unten in der Stadt sind ganze Straßenzüge
gesperrt. Dort patrouillieren junge Soldaten mit grimmigen Kindergesichtern,
und die Bewohner müssen sich ausweisen, wenn sie in ihre
Häuser wollen. Die Kolumbianer nehmen diese Belästigungen
ohne Murren hin. Das sind halt die Kosten für den Zuwachs
an Sicherheit (bzw. die etwas minimierte Unsicherheit). Gerade
ist es ein Jahr her, dass Alvaro Uribe an die Macht gekommen ist.
Während in der Vergangenheit die Zustimmung der Bevölkerung
zu den neu gewählten Präsidenten nach 12 Monaten Regierungszeit
noch immer ins Bodenlose abstürzte, ist sie bei Uribe auf
unglaubliche 70 Prozent gestiegen. Im ersten Zeitungsartikel,
den ich in die Hand bekomme, bitten die Familien von 15 bei Quibdó
entführten Campesinos, der Präsident möge doch
bitte davon absehen, ihre Angehörigen mit Militärgewalt
zu befreien. Einen Tag später werden von der Polizei zwei
Jugendliche festgenommen, die die Guerilla angeworben hatte, um
bei einem Selbstmordattentat den Präsidenten zu ermorden.
Die geplanten und (bisher) vereitelten Anschläge auf das
Staatsoberhaupt werden von den Kolumbianern gar nicht mehr gezählt.
In den "Comunas" des Elendsgürtels rund um Medellín
gehen wie schon im Frühjahr die Schießereien unvermindert
weiter. Mord und Totschlag sind an der Tagesordnung. Die Stadt
erstickt an ihren Flüchtlingen - Flüchtlinge vom Land
und Flüchtlinge aus den Randvierteln, die vor der Bedrohung
durch die Jugendbanden, Paramilitärs und Guerilleros fliehen.
In der ersten Nacht in Copacabana beginnen im Morgengrauen heftige
Schießereien in unmittelbarer Nähe, kurze Pistolenschüsse,
stärkere wie von Gewehren und noch dumpfere Schläge,
etwa eine halbe Stunde dauert das an. Währenddessen dringt
etwas verweht aus der nahen Kirche der Männergesang der Patres
herüber, die unbekümmert ihre Frühmesse fortsetzen.
(Wer weiß, vielleicht war das, was wie Schüsse klang,
auch nur ein Feuerwerk, mit dem irgendein Verrückter den
neuen Tag begrüßen wollte?) Inzwischen sollen 40 Prozent
der Kinder und Jugendlichen Medellíns ihr Leben auf der
Straße zubringen. Das erscheint mir kaum glaublich. Aber
man sieht mit eigenen Augen, dass sich dort immer mehr herumtreiben.
Im Patio, wo man früher so etwa 30 Kids sah, waren es am
Schluss 70 bis 80; in der "Albergue" ist Platz für
30, 60 dürfen hinein, und 170 begehren Einlass. So viel Straßenkinderprogramme
es gibt, sind es derzeit doch zu wenig.
Gegebenheiten vor Ort
Der Patio, wo wir die meisten Kids treffen - Hof und Schulhaus
-, ist in eine einzige Baustelle verwandelt. 30 Arbeiter sind
gleichzeitig auf vier Stockwerken tätig. Im Hof häuft
sich der Schutt. Das Dach ist ganz abgenommen und ein neuer Dachstuhl
aus eisernen Verstrebungen aufgesetzt worden.
Man sieht erst jetzt die ausgezeichnete Bausubstanz des heruntergekommenen
Gebäudes - Baujahr 1905. Die großen, übermäßig
hohen Räume werden zu Schlafsälen, Aufenthalts-, Arbeits-
und Versammlungsräumen umgewandelt. Im ersten Stockwerk ist
ein kleinerer Raum für die Druckwerkstatt, im zweiten einer
für den "salón de computatores" vorgesehen.
Im Gespräch mit dem Bauleiter entwickeln wir unsere Vorstellungen
von der Anordnung der vorgesehenen Arbeitstische und Computer.
Im Oktober, sagt er, soll der Umbau fertig sein. Dann könnte
unser Plan, die Geräte Anfang des nächsten Jahres aufzustellen,
tatsächlich verwirklicht werden.
Die Kids sind verschwunden. Selbst vor dem Tor lungert von unseren
Bekannten (Nathalie, Gorras, El Ruso, El Diablo, Doris...) kaum
mehr jemand herum. Die Kinder und Jugendlichen des Patio sind
in der "Albergue", einige Kilometer entfernt auf Halbhöhe
über der Stadt gelegen, untergebracht. Dort können aber
nur 60 bis 70 schlafen. Der Rest, noch einmal so viele Aspiranten,
müssen jetzt selber sehen, wie sie zurecht kommen. Sie bleiben
ausgesperrt. Die Funktion des Patio wird sich nach dem Umbau verändern.
Er wird nicht mehr nur tagsüber ein Treffpunkt sein, vielmehr
werden die Kids dort auch übernachten können. Man fragt
sich unwillkürlich, ob damit die Funktion des Patio verloren
gehen wird. Eine dauerhafte Unterbringung verlangt einen anderen
Stil und ein anderes Ambiente als ein "niederschwelliger"
Patio.
In der "Albergue" treffen wir alte Bekannte.
Jonathán, der etwa dreizehnjährige Dichter, ist ganz
aus dem Häuschen vor Wiedersehensglück und verspricht
mir ein neues Gedicht.Wenige Schritte von der "Albergue"
entfernt entfernt verbirgt sich hinter stabilen Eisengittern eine
andere Einrichtung der Salesianer, über die nur mit gedämpfter
Stimme gesprochen wird: Dort sind die Jugendlichen zwischen 15
und 18 Jahren untergebracht, die Mitglieder von Guerilla und Paramilitärs
waren. (Von 38 000 bewaffneten Guerilleros und Paras in Kolumbien
sind 24 000 Jugendliche zwischen 14 und 24 Jahren.) Einer der
Jungen soll Leibwächter des obersten Chefs der Paras, Carlos
Castano, gewesen sein. Da sie viel zu viel wissen, sind sie äußerst
gefährdet. Die Regierung bemüht sich, sie abzuwerben
und ihnen einen Neuanfang zu ermöglichen. Niemand weiß,
wie viele von den "Kindersoldaten" umgebracht werden,
ehe sie sich absetzen können. Ihr Betreuer sagt, sie seien
ganz anderes als Straßenkinder: längst nicht so lebendig,
kreativ und offen, sondern verschlossen, depressiv und antriebslos.
"Der Krieg", sagt er, "hat sie ganz und gar verändert."
Geplante Aktivitäten: Erste-Hilfe-Station im Patio
Veranlasst durch Anfragen von Medizinstudenten aus Deutschland,
die innerhalb des Projektes "Patio 13" ein Praktikum
absolvieren wollen, planen wir die Einrichtung einer "Erste-Hilfe-Station".
Dort sollen vor allem Wunden versorgt, kleinere Krankheiten behandelt
und präventiv informiert werden. Wie "Patio 13"
insgesamt, so soll auch dieses Teilvorhaben eine Lehr- und Lerneinrichtung
werden. Sie zielt zwar durchaus und ganz praktisch darauf ab,
dass die Kids, die zum Patio kommen, medizinisch besser versorgt
werden als bisher. Darüber hinaus aber soll die Station den
Studentinnen der Escuela Normal Superior, die am Projekt teilnehmen,
die Möglichkeit bieten, sich in Erster medizinischer Hilfe
zu bewähren, auf die sie zuvor theoretisch vorbereitet werden.
Mit der Einführung eines medizinischen Lehrgangs an der Escuela
Normal beginnt das Vorhaben.
Für den Theoriekurs, den die Studentinnen absolvieren, werden
vier Module inhaltlich und didaktisch erarbeitet, die sich auf
folgende medizinischen Problemfelder beziehen:
1. Infektionskrankheiten
2. Mangelernährung
3. Erste Hilfe und Notversorgung
4. Geschlechtskrankheiten
Die Medizinstudenten aus Deutschland werden das Lehr- und Lernmaterial
zusammenstellen, noch ehe sie nach Copacabana kommen, damit es
rechtzeitig übersetzt werden kann. Sie sollen während
ihres Kolumbienaufenthaltes immer nachmittags an der Escuela Normal
ihre Kurse für jeweils etwa 15 ausgesuchte Studentinnen anbieten,
mit denen sie dann im Patio das neue Wissen gleich praktisch erproben
können (trial ohne error). Die medizinische Ausbildung der
Studentinnen wird als Studienleistung im Curriculum der Escuela
Normal Superior anerkannt.
Ziel ist es also,
- ein dauerhaftes medizinisches Zentrum im Patio zu etablieren,
das die Versorgung der Kids verbessert;
- theoretisches und praktisches medizinisches Wissen den beteiligten
Studentinnen zu vermitteln;
- Erfahrungen zu sammeln und Materialien zu entwickeln, die zur
Ergänzung des geplanten neuen Studiengangs Straßenkinderpädagogik
(von dem gleich noch die Rede sein wird) dienen.
Weitere Schritte zur Einführung des neuen Studiengangs
"Pädagogik von Kindern und Jugendlichen der Straße"
Dieser für Deutschland wie auch für Kolumbien einmalige
internationale Studiengang wird (wenn er denn zustande kommt)
von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, der Escuela
Normal Superior in Copacabana und der Universidad de Antioquia
getragen. Nach ersten Gesprächen im Februar mit dem Dekanat
der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität
in Medellín und den Rektorat der PH Heidelberg im Juli
2003 steht nun die Frage an, welcher Typus von (Aufbau- oder Ergänzungs-)
Studiengang ("especialización" oder "maestria")
gewählt wird.
Die Gespräche im Erziehungswissenschaftlichen Dekanat laufen
hervorragend. Der Dekan ist, entgegen den ersten Gesprächen,
mit der "großen" Lösung einverstanden:
1.) Für unsere Studentinnen, die von der Normal an die Universität
wechseln, wird das Studienfach "Pädagogik von Kindern
und Jugendlichen der Straße" weitergeführt; gleichzeitig
wird er für alle Pädagogikstudenten der Universität
geöffnet. Unser Studiengang wird auf diese Weise für
die gesamte erziehungswissenschaftliche Ausbildung ("licenciatura")
relevant.
2.) Nach Abschluss des Studiums von 8 Semestern kann der Studiengang
"Pedagogia de los ninos y jovenes de la calle" als "Maestria
en ciencias educativas" (Master in Erziehungswissenschaften)
studiert werden. Die "maestria" ist das anspruchvollste
wissenschaftliche Studium, es umfasst 32 Semesterwochenstunden
plus Praktika und dauert 4 Semester, anschließend wird die
wissenschaftliche Examensarbeit (tesis) geschrieben.
3.) Die kolumbianischen Studierenden unseres Studiengangs bekommen
studienbegleitend Kurse in Deutsch, die deutschen Studenten in
Spanisch angeboten.
Marcela. Besuch im Gefängnis
Mit allem Nachdruck verhindern die zuständigen Stellen, dass
die weiblichen Gefangenen des Gefängnisses "Buen Pastor"
("Guter Hirte") besucht werden können, jedenfalls
legen sie einem alle nur denkbaren Schwierigkeiten in den Weg.
Sor Sara hat schon Tage und Wochen damit verbracht, die Hürden
zu überwinden, vergeblich. Als wir vor den Gittern des kleinen
Eingangs zu dem riesigen Komplex verharren, sind wir ganz pessimistisch.
Dann aber kommt das unverhoffte Glück: Wir können mit
der Gefängnisdirektorin sprechen. Bevor wir ganz eingelassen
werden, erklärt sie uns, dass es viele Jugendliche, die auf
der Straße gelebt haben, in ihrem Gefängnis gibt. Sie
sind im primitivsten Teil (der Drogenhändlerinnen, Prostituierten,
Totschlägerinnen) untergebracht. Bisher sei noch nie eine
Untersuchung über diese Klientel vorgenommen worden (Wer
sind sie, wo kommen sie her, was hat sie ins Gefängnis gebracht,
was wird aus ihnen, wenn sie entlassen werden ...?) So bittet
uns die Direktorin, eine solche "investigación"
vorzunehmen. Außerdem soll sich Sor Sara in einen Kreis
von Experten einfügen, der sich um die Belange der Gefangenen
kümmert, "nächstes Treffen am kommenden Mittwoch".
Dann aber sehen wir endlich Marcela. Sie lacht und weint gleichzeitig.
Vor meiner letzten Abreise im Frühjahr war sie verschwunden,
wie vom Erdboden verschluckt. Schließlich war sie wieder
aufgetaucht und durch allerlei Hilfe in einem Programm zur Resozialisierung
von Mädchen, die sich prostituierten und drogenabhängig
waren (Miraflores, Hogares Claret), untergekommen, wo sie sich
anfangs bei der Betreuung der Mädchen prima anstellte und
ganz glücklich war. Nach einiger Zeit bändelte sie mit
einem dort Beschäftigten an, es gab heftige Eifersuchtsszenen,
und um das Chaos, das sie verursachte, abzuwenden, schickte man
sie in eine andere Einrichtung der Hogares Claret. Damit war das
Problem keineswegs behoben, vielmehr verschärft. Der Konflikt
spitzte sich zu, und dann hat sie sich aus dem Staub gemacht oder
sie wurde rausgeworfen, das ist nicht mehr genau festzustellen.
Kurze Zeit später erwischte sie die Polizei beim Verkaufen
von Drogen. Man fand 45 kleine Tütchen mit Basuco bei ihr
(Das ist im Grunde eine winzige Menge. Jeder weiß, dass
alle Straßenbewohner Drogen konsumieren und viele vom Handel
damit leben. Dass die Polizei immer mal ein Opfer herausgreift,
hat eher symbolischen (oder politischen) Wert: Man ist ja nicht
untätig.) Seither sitzt Marcela im Gefängnis. Ein Rechtsanwalt,
der freiwillig bereit wäre, sie zu verteidigen, wird sich
nicht finden, denn da ist niemand, der ihn bezahlt. So wartet
sie auf einen Pflichtverteidiger. Möglicherweise bekomte
sie drei bis vier Jahre, so jedenfalls wird vermutet.
Auf die Bitte der Gefängnisdirektorin, eine wissenschaftliche
Untersuchung über die Straßenmädchen von "Buen
Pastor" zu machen, werden wir eingehen. Das passt gut ins
Projekt "Patio 13" und insbesondere in die Promotion
von Sor Sarar. Derzeit bereiten wir die kleine Forschung vor und
werden uns von einem Soziologieprofessor der Universidad de Antioquia
bei der Erarbeitung eines Fragebogens, der Auswertung und Interpretation
des Materials beraten lassen.
Vorstellung der CD/DVD
In den letzten Tagen (und Nächten) vor meiner Abreise nach
Kolumbien waren Holger Meeh und Antony Crossley unermüdlich
dabei, die geplante DVD zum Thema Straßenkinder in einen
Zustand zu bringen, der sich schon vorführen lässt.
Das hat auch geklappt - auf die letzte Minute. Tony bekam sogar
noch ein ansprechendes Cover hin. Nun enthält das gute Stück
bereits alles, was man sich nur wünschen kann: ein schönes
Lay out, eine raffiniert einfache und doch umfassende Systematik,
pädagogische, didaktische, methodische Texte zur Arbeit über
das Thema Straßenkinder; alles, was man schon immer über
Kolumbien und seine Geschichte wissen wollte (oder nicht); und
darüber hinaus jede Menge Arbeitsmaterial: den Roman "Treffpunkt
Plaza Bolivar", Ausschnitte aus anderen meiner Bücher,
über 100 Fotos (vergrößerbar) und von drei vorgesehenen
immerhin schon einen Videofilm ("Mondstraße, Sonnenstraße"
über und mit Marcela) - alles eigenes Material, dessen Veröffentlichungsrechte
bei mir liegen. Ich konnte damit bei Vorstellungen mittels Beamer
(?) bei Studenten, Professoren und Nonnen einen guten Eindruck
hinterlassen. Alle meinen (ich auch), dass sich das Material auch
bestens für den geplanten Studiengang eignet. Bei diesen
Gelegenheiten habe ich von der "Lernplattform" im Internet
berichtet, mit der wir ein Seminar im letzten Semester ("Unterrichtsvorbereitung
zum Lernbereich Dritte Welt/Straßenkinder") gestaltet
haben und das sich m.E. gut für Fernstudienphasen des Studiengangs
eignen wird (dabei ist es gleich, ob Dozenten und Studenten 10
oder 10 000 Kilometer voneinander entfernt sind).
Was es noch so gab und gibt
Heute beginnt Betty mit der Druckmaschine, die vom Patio in die
Albergue geholt wird,
Manuela und Elmar mit naturwissenschaftlichen Experimenten. Die
Kids lieben es, wenn es etwas zum praktischen Hantieren gibt.
Mit Sor Sara zusammen werde ich versuchen die Gefängnisdirektorin
zu erwischen und ihr unseren "Forschungsentwurf" zur
Situation von Straßenmädchen im "Buen Pastor"
schmackhaft zu machen. Dann müssen wir mit dem Leiter der
großen Einrichtung Ciudad Don Bosco, padre Luis Fernando,
wegen des Computerraumes, der Zugangsrechte und Verantwortlichkeiten
(Aufsicht) verhandeln. Der Tag beginnt um 4 Uhr früh und
endet um halb neun oder neun, manchmal auch zehn Uhr. So lässt
sich schon einiges unterbringen. Gestern war auch noch eine Forschungsgruppe
von der Universidad de Antioquia, Soziologen, Sprachwissenschaftler,
Dolmetscher. Sie befragten uns zum Thema Körper und Text.
Vorher hatte ich noch die Illusion, dass wir dieses Thema ganz
für uns allein gepachtet hätten. Irrtum. Ihr Forschungsthema:
Der Körper als Text.