Bericht über meinen Aufenthalt in Kolumbien
vom 20. August bis 22. September 2004
(als Pdf-Datei mit Fotos)
Der Himmel ist blau, die Bäume sind grün, und freitagabends quellen die Discotheken der „Rosa Zone“ von jungen Leuten nur so über. Alles scheint friedlich, die Menschen sind fröhlich. Man sieht den meisten die bösen Erinnerungen an schlimme Schicksalsschläge nicht an, die sie mit sich herumtragen. Das sind die Narben des seit einem halben Jahrhundert andauernden, nie erklärten und nie beendeten Bürgerkriegs in Kolumbien, in dem sich Phasen unterschiedlicher Intensität abwechseln. Heute erscheint die Gesamtlage etwas stabilisiert; sie ruhig zu nennen, wäre jedoch übertrieben. Die Entführungen gehen weiter. Ende letzten Jahres haben über 800 Paramilitärs in Antioquia (Hauptstadt: Medellín) die Waffen abgegeben. Man sieht sie jetzt manchmal, in staatliche Uniformen gekleidet, wie sie für Ordnung auf Straßen und Plätzen sorgen. Dabei hört man, dass sich manch einer als „Para“ ausgegeben habe, um an den Segnungen des staatlichen Resozialisierungsprogramms teilzuhaben. Wie auch immer, in den Notfallstationen der Krankenhäuser („Urgencias“) hören wir, dass die Zahl der Verletzten, Angeschossenen, Aufgeschlitzten, die die vor allem an den Wochenenden angezettelten Gewaltakte überlebt haben, deutlich zurückgegangen ist. Diesen Befund bestätigen die aktuellen Zeitungsberichte („El Colombiano“): Im vergangenen Monat habe es in Medellín die wenigsten Toten seit über 20 Jahren gegeben, kaum einmal 100...
Zweifel an einer allgemeinen Beruhigung der Lage in Medellín kommen zumal dann auf, wenn man hört, dass es in einzelnen Barrios der Comunas (Elendsgürtel), zum Beispiel in Castilla, schon wieder bedrohlich zu rumoren beginnt. Möglicherweise kündigen sich dort Zustände wie vor einigen Jahren an, als es in Medellín jede Nacht zu Schießereien in den Stadtrandgebieten kam und sich die Banden, Guerilleros und Paras gegenseitig abzuschlachten versuchten.
Zwischen „Normal“ und Patio: was dort gerade läuft
Studentinnen im Patio täglich anwesend. Im Patio, wo bislang die hauptsächlichen Aktivitäten des Projekts „Patio 13“ abgesiedelt waren, ist die Entwicklung rasant weiter gegangen. Inzwischen sind dort fünf Gruppen von Studentinnen und Studenten der Escuela Normal Superior von Copacabana (der „Normal“, wo Lehrer ausgebildet werden) aktiv, von montags bis freitags jeweils nachmittags. Vielleicht ist es nicht so spannend zu berichten, wie diese Gruppen aufgestellt und geordnet sind und an welchen Themen sie arbeiten. Aber es ist wichtig und zeigt, dass wir ein zentrales Projektziel bereits erreicht haben: nämlich die Straßenkinderproblematik in der Lehrerausbildung an der Normal fest zu verankern.
Also, nur kurz zur Organisation:
- Von Anfang an und bis jetzt sind Studentinnen und (wenige) Studenten des 11. Jahrgangs („grado onze“) sowie Studierende des sogenannten „Ciclo complementario“ (der Zeit, während der die Normalistas auch an der Universität von Antioquia eingeschrieben sind) im Projekt „Patio 13“ aktiv.
- Zu Wochenbeginn, montags von 6 Uhr 45 bis 8 Uhr in der Frühe (!), treffen sich sämtliche Gruppen mit den Lehrkräften zum projektbegleitenden Seminar. Nachdem notwendige organisatorische Fragen besprochen worden sind, stellt je eine Gruppe ihren aktuellen Arbeitsstand im Patio vor. Darüber wird anschließend diskutiert, so dass immer alle auf dem gleichen Wissenstand sind.
- Jede Gruppe hat ihr Projekt in einem anderen inhaltlichen Rahmen verankert. Die allgemeinen Themenbereiche sind:
„Lengua Castellana“ (Spanisch),
„Matematicas“,
„Ciencias Sociales“ (Sozialwissenschaften),
„Ciencias Naturales“ (Naturwissenschaften (Medizin/Hygiene und Physik)
und „Idiomas“ (Englisch und Deutsch).
- Für alle Gruppen gemeinsam gibt es einen Lehrgang in „Nuevas tecnologias“ (insbesondere Computer und Internet).
- Jede einzelne Gruppe gestaltet wöchentlich einen Nachmittag im Patio. Dort sind also unsere Studentinnen täglich präsent.
Neuer Studentinnenjahrgang geht direkt auf die Straße. Während meines Aufenthaltes nahmen darüber hinaus etwa 20 Schülerinnen des „grado octavo“ (8. Jahrgang) die Arbeit im Projekt auf, allerdings nicht im Patio, sondern direkt auf der Straße, nämlich im Barrio Naranjal, einem äußerst armen, heruntergekommenen, von Drogenhändlern, Drogenabhängigen und billigen Prostituierten überschwemmten Viertel im Zentrum der Stadt. Aufgabe der neuen (erst vierzehn- und fünfzehnjährigen) Projektmitarbeiter ist es, im Prozess der Annäherung an die dortigen (Straßen-) Kinder und im Nachdenken über die persönliche Erfahrung zunächst so etwas wie einen „ethnographischen Blick“ zu entwickeln. Dafür ist ein ganzes Jahr angesetzt. Wir haben darauf geachtet, dass sie ihren eigenen Weg gehen und nicht von vermeintlichen „Experten“ auf dieses Experiment vorbereitet werden.
Ein Jahr später (im „grado noveno“) sollen sie Methoden entwickeln, mit denen sie ihre Erfahrungen in der Arbeit mit Kindern verarbeiten.
Im 10. und 11. Jahrgang werden sie dann darüber reflektieren, wie sie selbst als zukünftige Lehrer und wie die Schule als Institution auf die erfahrene Situation der Straße und der Straßenkinder reagieren soll.
Im anschließenden „ciclo complementario“ werden diese Studierende auf eine bestens gegründete Qualifikation zurück greifen können. Sie sind die idealen Studenten für das bis dahin eingeführte Master-Studium, von dem ich später berichte.
Bei der Beobachtung der Arbeit der Schülerinnen und Studentinnen im Patio war ich erstaunt über das Interesse und die intensive Aufmerksamkeit der Kinder und Jugendlichen, die täglich nahezu zwei Stunden lang konzentriert bei der Sache sind, wenn es um Mathematik, Lesen, Geographie usw. geht. Vor einem halben Jahr waren sie noch unruhig, meist gab es ein hektisches, manchmal wildes Hin und Her, plötzliche Auf- und Abbrüche. Jetzt liegt über dem Raum, den sich meist drei oder vier Gruppen teilen, eine große Gelassenheit und Selbstverständlichkeit, das angenehme leise und kommunikative Getuschel interessiert Lernender, das manchmal vom Lärm der Stadt überlagert wird. Man spürt keine Fremdheit mehr zwischen den Studentinnen und den Kids, wenn sie ihre reichhaltigen, selbst gefertigten Materialien auspacken. Dann wird gespielt, gerechnet, experimentiert.
Besuch aus Deutschland. Mit mir waren dieses Mal Frau Schön, die Leiterin des Akademischen Auslandsamtes der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, Kollege Möbius vom Fach Deutsch und mein Sohn Tobias, frischgebackener Arzt, nach Kolumbien gereist. Frau Schön kümmerte sich um die Bedingungen des Studenten- und Dozentenaustauschs zwischen den Institutionen und freute sich über den Fortschritt in der von Kollegen Hans-Werner Huneke angestoßenen Entwicklung von „Deutsch als Fremdsprache“ bei den Studenten der Escuela Normal und der Universität von Antioquia. Dabei stieß sie wichtige Entscheidungen für die Zukunft an; zum Beispiel wird ab sofort ein hauptamtlicher Deutschlehrer an der Normal eingestellt. Ziel ist es, das Niveau der Deutschkenntnisse insbesondere derjenigen Studierenden zu verbessern, die zum Studium nach Deutschland kommen.
Thomas Möbius entwickelte mit hiesigen Kollegen sowie mit kolumbianischen und deutschen Studentinnen im neu eingerichteten Computerraum des Patio ein Internetprojekt, bei dem Straßenkinder mit Hilfe selbst aufgenommener Fotos und selbst geschriebener Texte einmal eigene Homepages erstellen und mit Gleichaltrigen in Südamerika und Europa in Kontakt treten. Dabei unterstützte ihn vor allem Jorge Marulanda, der AV- und Computerexperte der Escuela Normal, der seit einigen Monaten die Kids des Patio an den Umgang mit Computern heranführt (regelmäßig freitags von 8 bis 16 Uhr). Allerdings funktioniert der Internetanschluss noch immer nicht, aber „die Hoffnung (sagen die Kolumbianer) stirbt als letzte“.
„El medico Tobias“ – wie Sor Sara ihn zu titulieren pflegte - entwickelte mit einer kleinen Gruppe von Studentinnen, Dozenten der Normal, einer Ärztin und einem Erzieher die Konzeption für eine Medizinische Station im Patio, bei deren Einrichtung und Betreibung die Studentinnen lernen, wie sie präventiv beraten und bei Notfällen Straßenkinder verarzten können. Dieses Vorhaben hatte Malte Ottenhausen bei seinem Aufenthalt im Patio im April des Jahres angestoßen.
Tobias hatte für seinen ersten Auftritt ein Besteck zum Nähen von Wunden sowie einige Schweinsfüße besorgt. Als er diese in der Patio-Küche deponierte, wurden sie von der eifrigen Küchenmutter versehentlich eingefroren, und als er sie mit lauwarmem Wasser aufzutauen versuchte, hat sie die Köchin kurzerhand gekocht. Da half nur die Beschaffung neuer Demonstrationsobjekte. Die Studentinnen und Kids waren begeistert.
Stipendien. Zur Zeit bereiten sich vier Studentinnen aus Kolumbien auf einen Aufenthalt von einem Jahr in Deutschland vor. Ihnen wurde das Stipendium der Baden-Württemberg-Stifung zugesprochen. Drei Studentinnen aus Heidelberg - Conny Korsch, Susanne Jung und Therese Ache, zum Teil unterstützt aus Mitteln der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, - werden am 3. Oktober in Medellín eintreffen. Silja Engelhardt ist bereits am 1. September hier gelandet und am Flughafen Rio Negro von drei Studentinnen aus Copacabana (nebst Victor Marín) in Empfang genommen worden, mit denen zusammen sie ein Projekt erarbeitet, in dem es um die Einrichtung einer Bibliothek für Straßenkinder sowie um den weiteren Einsatz der Druckwerkstatt im Patio geht. Zusammen mit Thomas Möbius haben sich Conny und „meine“ Tutorin Therese darauf vorbereitet, mit den Kids des Patio am Computer und im Internet zu arbeiten. Therese hat kürzlich in einen Artikel in der „Rheinpfalz“ von einem Fotoprojekt mit Straßenkindern gesprochen, und nun hat sie jede Menge alter Fotoapparate bekommen, die, wenn sie erst einmal nach Kolumbien befördert sind, ihren Einsatz auf der Straße finden werden.
... und was außerhalb des Patio noch so vor sich geht
Tote. Alte Bekannte. Die Szene „draußen vor der Tür“ des Patio hat sich, wohl verursacht durch erneute Drohungen der Todesschwadronen und durch aggressive Rivalität zwischen verschiedenen Banden, denen die einzelnen Jugendlichen angehören, etwas gelichtet. Drinnen gibt es viel mehr Kinder als früher, draußen lungern weniger herum. Von denjenigen, die ich hier nenne, gibt es Fotos in unserem Buch „Narben auf meiner Haut“, Grund genug, Kontakt mit ihnen zu halten. Der etwas über zwanzigjährige G., den wir schon seit Projektbeginn kennen, einst „novio“ („Verlobter“) von Marcela, der angeblich einige Menschen auf dem Gewissen hat und der im letzten April eine gute Entwicklung durchzumachen schien, ist, wie man hört, aufgebrochen, angeblich ist er nach Bogotá unterwegs und wird vermutlich irgendwann einmal wieder auftauchen. „Nene“, ein etwas schmächtiger Junge mit auffallenden Zahnlücken, ist wenige Tage vor unserer Ankunft umgebracht worden. Er hatte beim Fußballspielen einen anderen versehentlich angerempelt, und der hat ihm daraufhin eine angespitzte Latte in den Leib gerammt. Zwei Tage nach unserem Kommen gab es ein weiteres Todesopfer. Ein schwarzhäutiger Junge, der zeitweilig im Patio, dann wieder draußen war, ist bei einer plötzlich aufflammenden Streitigkeit von einem Gleichaltrigen umgebracht worden. Sein Bruder, der dauerhaft im Patio ist, trauert nun, und die „educadores“ („Erzieher“) befürchten, er werde sich früher oder später davon machen, um tödliche Rache zu nehmen.
Nathalie, die mich beim letzten Treffen im April nur noch böse anfauchte, weil ich ihr einige Fotos schuldig geblieben war, konnte endlich mit schönen Aufnahmen besänftigt werden. „El Ruso“, der während der Umbauarbeiten am Patio seine beste Zeit als Hilfsarbeiter erlebt hatte und regelrecht aufgeblüht war, ist wieder ganz in die Straßen- und Drogenszene abgerutscht. Obwohl ständig zugedröhnt, erinnerte er sich jedoch sofort daran, was ich ihm vor Monaten versprochen hatte: deutsche Münzen und eine Kamera. Und Doris, die vor vier Jahren durch ihre Attraktivität und Gewitztheit aus der Gruppe des „cambuche“ (Behausung) unter der Brücke hervorstach, ein Jahr später kaum mehr zu erkennen war, niedergedrückt und schmutzig, und im letzten Jahr das Gesicht dermaßen zerschlagen hatte, dass sie kaum mehr aus den Augen schauen konnte, schien es besser zu gehen, ihr Gesicht war einigermaßen verheilt. Sie lud uns zu ihrer Behausung ein, wo sie derzeit nur noch alleine wohnte. Sie sei schwanger, sagte sie, und tatsächlich ließ ihr Bauch darauf schließen, dass sie etwa im fünften Monat war. Sie hatte Schmerzen und brauchte Hilfe. So brachten wir sie zu Noreley, der Frauenärztin und Mitarbeiterin von „Patio 13“. Eine Schwangerschaft ist naturgemäß der stärkste Impuls für Straßenbewohner, auf den Konsum von Drogen zu verzichten. Doris war fest entschlossen, sie werde das schon schaffen. Ihre Augen leuchteten, als sie von ihrem Kind sprach. Als ich sie am nächsten Tag traf, behauptete sie, sie hätte nichts konsumiert, überhaupt nichts, nicht mal „pegante“ (Kleber). Dabei schwankte sie hin und her, wie ein Strauch im Wind.
Marcela. Auf der Suche nach Marcela durchstreiften wir das Viertel Naranjal. Wochen zuvor hatte Sor Sara mit großem Einsatz, gelindem Druck und der verbindlichen Zusage, regelmäßig einen „mercado“ (Wocheneinkauf) an die Familie zu liefern, es erreicht, dass Marcela „zu Hause“ (was immer davon übrig geblieben ist) aufgenommen wurde. Aber lange hielt sie es dort nicht aus. Nach einem heftigem Krach mit der Mutter (die ihr vorwarf, sie esse zu viel) machte sich Marcela wieder aus dem Staub. Sor Sara erreichte auch, dass Marcela gründlich untersucht wurde. Dabei kam heraus, dass sie die schweren Krankheiten, die wir bei ihr vermutet hatten, wohl nicht hat.
Vor ihrer „cueva“ („Höhle“) wartend, schickten wir jemanden, der dort wohnt, hinein und ließen nach ihr suchen. Eine „cueva“ ist ein verlottertes Gebäude von der Größe eines Ein- oder Mehrfamilienhaus, das von Hunderten von Insassen frequentiert wird, Schlafstelle, Drogenumschlagplatz und Prostituiertentreff. Die Leute, die dort ein und aus gehen, die Ärmsten der Armen, Kranke, Alte, auch drogenabhängige Kinder, die sich prostituieren, sind äußerst ängstlich, aggressiv, und bei geringstem Anlass können sie in Panik ausbrechen. Kein Außenstehender wagt sich hinein, nicht einmal ein Polizist. Die Polizei rückt nur selten an, und wenn, dann in Mannschaftsstärke und mit schweren Waffen. Dann treiben sie die Leute hinaus, pferchen sie auf Lastwagen und schaffen sie irgendwohin.
Als Marcela herauskam, war sie schlaftrunken, benebelt, nur dürftig bekleidet. Krank sah sie aus, abgemagert und schmutzig. Aber sie hatte ihre Stimme wieder gefunden und freute sich. Wann es mit der Filmerei weiter gehe, fragte sie bald. Sie sei mit dem Ende der letzten Aufnahmen nicht zufrieden.
Bei einem zweiten Besuch einen Tag später gingen wir nach einigem Zögern selbst in die „cueva“ hinein. Zuerst muss man sich durch einen engen, verwinkelten Gang in einen winzigen Hinterhof hindurch zwängen. Es ist wie in einem Taubenschlag, ein dauerndes Kommen und Gehen. Hier wird in einem einzigen schäbigen Gebäude (und davon gibt es in diesem Viertel einige) täglich für viele Millionen Pesos Basuco (das billigste und äußerst schädliche Rauschgift) umgesetzt. Dann kommt man in einem dunklen kellerartigen Raum. Der Boden besteht aus gestampftem Lehm oder Beton. Dort hockten etwa dreißig Menschen, grau und apathisch, auf den niedrigen Bänken, die an den Wänden aufgestellt waren. Sie rauchten Basuco, schwiegen vor sich hin, manche blickten nur flüchtig auf. Auf der einzigen vorhandenen Pritsche lag ein alter, weißhaariger, bärtiger Mann mit offenem Mund, wie tot. Zwischen den grauen abgerissenen Gestalten saß eine blonde Dame, die hier absolut fehl am Platz schien. Sie schaute mit großen Augen auf und sagte: „Das hier ist wie ein Krebs. Er frisst dich nach und nach unweigerlich auf.“ Ein winziger Teil des dunklen Raumes war mit einem Vorhang abgetrennt, die Toilette. In einem offenen Nebenraum, kleiner als ein Bett, stand eine weitere leere Pritsche. Eine Treppe führte hinauf in den zweiten und dritten Stock. Dort oben sah es noch trostloser aus, noch mehr Menschen. Sie blieben erstaunlicherweise ganz ruhig, sogar freundlich, einige winkten müde. Einer sprach uns in gepflegtem Englisch an. Ein anderer lud zum Mitrauchen ein. Ein Dritter meinte halb ernst, halb im Scherz: „Hier ist es üblich, dass Gäste eine Runde Basuco springen lassen.“ Später traf ich den einen oder anderen draußen auf der Straße wieder, und dann winkten wir uns zu wie alte Bekannte.
Kinderprostitution. Sexueller Missbrauch. Die ersten Seiten der Tageszeitungen machten kürzlich auf den Fall eines achtjährigen schwangeren Mädchens aus Bogotá aufmerksam. Kurz darauf folgten ähnliche Geschichten, zum Beispiel von einem zehnjährigen schwangeren Kind aus Barranquilla. An den folgenden Tagen erschienen dann größere analytische Artikel. Offenbar hat man damit ein heißes Eisen angefasst, ein Thema, das lange unter der Decke gehalten wurde. Sexueller Missbrauch insbesondere von Mädchen scheint in den Elendsvierteln viel häufiger vorzukommen als befürchtet. Wie überall auf der Welt findet der sexuelle Missbrauch auch hier meist in der eigenen Familie statt. Im Jahr 2003 hat das hiesige „Instituto de Medicina Legal“ 4.077 Fälle registriert. Bei 70 Prozent waren die Missbraucher nahe Bekannte oder Familienangehörige. Sor Dora, Mitschwester von Sor Sara, erzählte mir von einem Mädchen, das, vierzehnjährig, von ihrem Vater schwanger geworden ist. Der hatte sie seit ihrem dritten Lebensjahr missbraucht. In einem anderen Fall gelang es Sor Dora, einen Stiefvater, der ein zehnjähriges Kind seit dessen drittem Lebensjahr missbraucht hatte, für zwölf Jahre hinter Gitter zu bringen.
Auch die Kinderprostitution nimmt in Kolumbien immer mehr zu. Nach Unicef-Angaben arbeiten hier etwa 2.500.000 Mädchen und Jungen, und von ihnen betätigen sich mindestens 35.000 als Prostituierte. In letzter Zeit steigt vor allem die Zahl der ganz jungen an, der unter zehnjährigen. Dabei gibt es in Kolumbien eigens ein Gesetzbuch zum Schutz der Kinder, den „Codico del Menor“, nach dessen Artikel 44 das Recht des Kindes sogar über das der Erwachsenen gestellt wird. Anders als die Gesetzestheorie sieht die Wirklichkeit aus. Das Geschäft der kleinen Prostituierten floriert besonders an den Wochenenden. Dann können sie gut und gern zwei oder drei Kunden in einer Nacht haben. Sie verlangen zuerst 40 bis 50.000 Pesos, dann wird gehandelt, und schließlich geben sie sich mit 30.000, an schlechten Tagen (montags oder dienstags) auch schon einmal mit 15.000, zufrieden. Im Patio gibt es neuerdings bis zu zehn Jungen, die wie Mädchen aussehen und sich auch so verhalten. Einige von ihnen gehen nachmittags auf den Kinderstrich auf der Plaza Bolivar vor der Kathedrale.
Studiengänge „Straßenkinderpädagogik“
„Diplomado“, erster Durchgang beendet. Im April führte die Universidad de Antioquia den Studiengang „Pädagogik der Kinder und Jugendlichen der Straße“ als „diplomado“ (Zusatzqualifikation, die auf dem „ecalafón“, der für die Gehälter relevanten Stufenleiter, immerhin zwei Punkte bringt) ein, ein wichtiger Anstoß, der von „Patio 13“ ausging. Nun fand im August das letzte Seminar und Anfang September der feierliche Abschluss mit der Übergabe der Zeugnisse statt.
Die Teilprojekte, die jeweils von Kleingruppen aus zwei bis vier Teilnehmern geplant und durchgeführt worden waren, hatten folgende Themen zum Inhalt:
- „Ciencias Sociales („Geschichte, Erdkunde, Soziologie“) für Straßenkinder“;
- „Mathematik für Straßenkinder“;
- „Lesen und Schreiben mit Straßenkindern“;
- „Hipoterapia (Therapeutisches Reiten) mit Straßenkindern“;
- „Arbeiten mit Kindern und Jugendlichen in der Comuna 13“;
- „Behinderungen bei Straßenkindern“;
- „Kinderprostituierte in der Gemeinde Santa Barbara. Entwicklung einer Konzeption für ein einzurichtendes Mädchenhaus“;
- „Medizinische Hilfe für Jungen und Mädchen der Straße im Viertel Naranjal“.
Der Projektmethode entsprechend, hatten die Gruppen über Fragestellungen gearbeitet, die Ernstcharakter haben und deren Ergebnisse in die aktuelle und zukünftige Arbeit von „Patio 13“ eingehen werden. 38 Teilnehmer hatten sich eingeschrieben, alle hatten sie den ersten Diplomstudiengang absolviert, nicht ein einziger war abgesprungen. Am Ende drückten alle aus, dass sie „irgendwie weitermachen“ wollten.
Masterstudiengang „Pädagogik von Kindern und Jugendlichen der Straße“ im nächsten Jahr. Damit trifft sich gut, dass der Diplomstudiengang weiter geführt wird, im Februar 2005 beginnt der zweite Durchgang. Dazu hat, bereits vor der Ausschreibung, die Stadt Medellín (Bürgermeister/Stadtverwaltung) 10 Plätze reserviert, und aus der größten Straßenkinderinstitution der Stadt wollen sich etwa 20 Straßenpädagogen einschreiben.
Darüber hinaus soll im nächsten Jahr an der Universität von Antioquien ein Maestria- (Master-) Studiengang „Pedagogia del nino y joven de la calle“ eingerichtet werden. Dies haben der Rektor und der Dekan der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät anlässlich unseres Besuchs bekräftigt. Der neue Studiengang dauert vier bis fünf Semester. Daran wird sich das „doctorado“ anschließen, so dass in einigen Jahren damit zu rechnen ist, dass man hier über das Thema Straßenkinder verstärkt forschen und promovieren wird.
Die Absolvierung des Diplomstudiengangs müssen die Teilnehmer oder die Institutionen, von denen sie geschickt werden, normalerweise selbst bezahlen. Sor Sara erreichte aber, dass beim ersten Durchgang fast 70 Prozent der Plätze durch Stipendien abgedeckt werden konnten. Wegen eines noch viel umfänglicheren Sponsoring (Förderung) des Maestria-Studiengangs (Vergabe von Forschungsstipendien) ist sie, natürlich voller Hoffnung, derzeit mit einer großen nationalen Firma im Gespräch.
Neubeginn im Viertel Naranjal
In der Escuela Normal Superior in Copacabana wird in jedem Studienjahr eine neue Gruppe von Studentinnen zur Mitarbeit im Projekt „Patio 13“ eingeladen. Dies erfolgt jeweils im sogenannten „grado octavo“ (8. Klasse), dann sind die Mädchen gerade einmal vierzehn Jahre alt. So haben sie die Möglichkeit, sich während der ganzen verbleibenden Zeit an der Normal und anschließend (im „ciclo complementario“) an der Universität mit dem Thema Straßenkinder zu beschäftigen. Nach ihrem Studienabschluss („licenciatura“) können sie sich dann (so ist das vorgesehen) in einem Erweiterungsstudium („maestria“) auf dem Gebiet der Straßenkinderpädagogik qualifizieren. Und wer immer noch nicht genug hat, kann schließlich über dieses Thema weiter forschen und promovieren („doctorado“).
Was davon heute zum Teil noch in den Sternen steht, ging während meinem diesmaligen Aufenthalt wieder ein gutes Stück weiter: Die Schülerinnen des derzeitigen „octavo grado“ (Vierzehnjährige der 8. Klasse des „bachillerato“) wurden in ihr schul- und studienbegleitendes Projekt eingeführt. Sie werden nicht wie die Jahrgänge vor ihnen im (einigermaßen geschützten) Patio, sondern direkt auf der Straße arbeiten, und zwar im Viertel Naranjal.
Dorthin sind wir auf der Suche nach Marcela geraten, eine extrem heruntergekommene Gegend, wo es die schlechtesten Drogen und billigsten Prostituierten gibt. Inzwischen kennen uns dort schon einige Bewohner. Wir gehen unter dem Titel „la hermanita y el padre“ durch, was immerhin die Angst der Leute beschwichtigt. Die „Normalistas“ werden das Viertel erkunden, Kontakt mit den Leuten aufnehmen, und schließlich die Kinder – Familienkinder und Straßenkinder – zu regelmäßigen Treffs einladen.
Auf das Barrio El Naranjal werden sich auch die Projekte des oben genannten zweiten Diplomado-Durchgangs beziehen: Es wird um Geschichte, Entwicklung und Soziologie dieses Viertels gehen, das die Diplomanden unter teilnehmender Beobachtung und durch Befragungen erkunden. Dabei werden sie Strategien und Maßnahmen für die Arbeit mit Kindern entwickeln.
Was es sonst noch gab
Videofilme Wir haben das Filmprojekt über Marcela fortgeführt in der Hoffnung, irgend wann einmal eine Langzeitstudie präsentieren zu können. Darüber hinaus haben wir die Arbeit an einem Film begonnen, der den Umgang der Studentinnen mit den Kindern von Naranjal, beginnend mit der ersten Begegnung, dokumentieren soll.
Buchveröffentlichung. Mit einem Verlag in Bogotá wurde die Ausgabe einer spanischen Übersetzung von „Narben auf meiner Haut. Straßenkinder fotografieren sich selbst“ vereinbart. Dieses Buch ist außer bei der Edition Büchergilde, Frankfurt am Main, inzwischen auch beim Don Bosco Verlag, München erschienen.
Master-Studiengang Straßenkinderpädagogik in Bogotá. Die Verhandlungen mit der Universidad Externado de Colombia in der Hauptstadt wurden weitergeführt. Nächstes Jahr soll der Studiengang dort eingeführt werden.
Reiten mit Straßenkindern. Nachdem Marcela immer wieder geäußert hatte, dass es ihr innigster Wunsch sei, Straßenkinder zu betreuen, und dass sie außerdem gerne reiten möchte, luden wir sie eines Tages ein, zusammen mit dem Jungen, den sie gerade „adoptiert“ hatte, auf eine Finca (Bauernhof) zu fahren. Als wir sie gegen zwölf Uhr aus der „cueva“ abholten, war sie noch völlig zugedröhnt, und im Auto schlief sie sofort wieder ein. Nelson, genannt Pinki, ein sympathischer, etwas ängstlicher und wortkarger Junge, ist dreizehn Jahre alt. Seit drei Jahren lebt er auf der Straße und hat seither Mutter und Geschwister nicht mehr gesehen. Auch er war benebelt. Marcela, sagte er, habe ihm beigebracht, wie man kifft. (Marcelas „Adoption“ kleiner Jungen dient weniger der Fürsorge als der gegenseitigen Unterstützung, um nicht zu sagen der Ausbeutung. Im April hatte sie Dheivy im Schlepptau. In einem solchen intimen Verbund teilt man das, was Bettelei, Dienstahl, Drogenhandel und Prostitution abwerfen, und so entsteht eine denkbar enge Beziehung und auch emotionale Abhängigkeit.)
Auf der Finca tollte Pinki mit Hund und Ziege herum. Auf dem Pferd saß er mit stolz aufgerichtetem Körper. Immer wieder lachte er laut auf vor Glück, küsste das Tier und umschlang es. Auch Marcela wurde kurzfristig wach, als sie aufs Pferd steigen durfte. Dann schlief sie sofort wieder ein.
Nach dem Reiten war Pinki wie verwandelt. Er wolle gerne „veterinario“ (Tierarzt) werden, gestand er. Wir konnten ihn überreden, mit uns in den Patio Don Bosco zu gehen. Sor Sara kleidete ihn zuvor neu ein, rote Hosen, eine rot-graue Bluse, schöne, weiche Schuhe. Dann schoben wir, nach seiner uns überraschenden Zustimmung, einen Besuch bei seiner Familie ein: Die Fahrt mit einem wackeligen Bus dauerte über eine Stunde, in der dieser die steilen Hänge hinaufkeuchte, bis dorthin, wo die Backsteinhäuser aufhören und die Holzhütten beginnen, eine Gegend, die als sehr gefährlich gilt. Blanquizales heißt diese „invasión“ (Landbesetzung).
Pinkis Mutter lachte und weinte. Die Hütte mit Schlafraum und Küche hatte sie selbst zusammengenagelt, nachdem sie mit eigener Kraft und einer Schaufel in den steilen Hang eine einigermaßen ebene Fläche hinein getrieben hatte. Dort lebt sie zusammen mit sechs oder sieben Jungen. Der gegenwärtige Liebhaber der Mutter war gerade in der Stadt unterwegs. Pinki ist der Jüngste unter den Geschwistern. Den ältesten ihrer Söhne hätten die Paramilitärs vor einer Woche abholen und töten wollen, erzählte die Mutter. Sie hätten ihn beschuldigt, Mitglied er Guerilla zu sein, die vor kurzem noch die Macht im Viertel inne gehabt hatte. Aber sie habe ihn im letzten Augenblick retten können.
Beim Abschied ermunterte die Mutter Pinki. „Wenn du gut voran kommst und einmal Erfolg hast, dann sollst du mich zu dir holen.“ Als wir zurück gingen, kamen wir an einem Posten von drei oder vier uniformierten Paras vorbei. Sie würdigten uns keines Blicks.
Am nächsten Tag besuchte ich Pinki im Patio. Er stand am Fenster und starrte hinaus. Er wolle so gern zurück auf die Straße und Marcela wieder treffen.
Hartwig Weber, Medellín, im September 2004.