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Schülerinnen erforschen die Realität der Straße

Ein Erfahrungsbericht über meinen Studienaufenthalt in Copacabana/Medellín ( 10.8.- 9.10.2006)
Von Manfred Ferdinand

Ein erster Besuch sollte es sein, zum Kennenlernen des Projektes, der Straßenkinder in Medellín. Ich sollte mir ein Bild machen von der Situation, um mir klar zu werden, ob ich ein Forschungsvorhaben zum Thema Religion von Straßenkindern umsetzen könnte. Darüber hinaus sollte ich ein Seminar zu diesem Thema anbieten: So die Vorstellung der Projektleiter Prof. Hartwig Weber und Sor Sara Sierra, die mit immer neuen Ideen das schon sehr ausgewachsene Projekt vorantreiben.

Herausgekommen bei den Vorbereitungen ist so etwas wie eine konzertierte Aktion: Während ich zusammen mit Anna-Lena Wiederhold und Elizabeth Ramirez Rivera mit einem ganzsemestrigen Seminar zum Thema Qualitative Sozialforschung 20 ausgewählte Schülerinnen des Grado Octavo in die Arbeit mit Straßenkindern einführen durften, bekam meine Frau, Ute von Kahlden, die Gelegenheit, mit derselben Schülerinnengruppe einen kreativen Zugang zum Thema zu versuchen, indem sie mit ihnen in einem 4-wöchigen Projekt Foto-Novelas zum Thema erarbeitete. So hatte die Arbeit von vornherein zwei Schwerpunkte: Zum einen die Arbeit mit den Schülerinnen der Escuela Normal Superior de Copacabana, die als eigenen Schwerpunkt ihrer Ausbildung für die kommenden Jahre die Arbeit im Projekt „Patio 13 – Schule für Straßenkinder“ gewählt haben; zum anderen die Erforschung des Arbeitsfeldes, das Kennenlernen von Kindern in unterschiedlicher Nähe zum Leben auf der Straße.

Mit je drei mehrstündigen Arbeitseinheiten, die die Schülerinnen zusätzlich zu ihrem normalen Stundenplan absolvierten, waren beide Projekte gut ausgestattet und erlaubten in den folgenden Wochen ein effektives Arbeiten.

Das Fotonovela-Projekt endete zur Verabschiedung meiner Frau am Montag, dem 11.09., mit der Präsentation und Diskussion der Fotonovelas zu den Themen „Vida en la calle“, „Classes sociales“, „Comportamientos“ und „Discriminación“. Letztere war von einer Schülerinnengruppe mit Kindern erarbeitet worden, die in verschiedenen Institutionen der Umgebung betreut werden und jeden Donnerstagnachmittag zu Spiel und besonderen Lernprogrammen in die Escuela Normal Superior de Copacabana kommen.

Im Seminar „Qualitative Sozialforschung“, aufgeteilt in eine Theorie- und zwei Exkursionseinheiten, erarbeiteten wir mit den Schülerinnen ethnografische Methoden der Feldforschung und die spezielle Dokumentarische Methode nach Ralf Bohnsack, lernten - geführt von den Anthropologen Victor Ortíz und Olga Cristina Agudelo - Medellín kennen unter dem Aspekt der historischen und aktuellen Gegenden, Lebenssituationen und Kontexte, aus denen sich die Geschichte und Gegenwart von Straßenkindern in Medellín speist, um schließlich einschlägige Orte wie die „Uferpromenade“ des Río Medellín oder das Barrio Triste mit den Schülerinnen zu besuchen und dort die jungen Straßenbewohner kennenzulernen. Besonders das Barrio Triste mit einer Gruppe von Straßenbewohnern zwischen drei und etwa 20 Jahren bot sich dafür an und wurde unser Schwerpunkt.

Bis Mitte Oktober, dem Zeitpunkt meiner Heimreise, hatten wir somit eine viel versprechende Gruppe von Straßenkindern und –jugendlichen gefunden, sie über mehrere Wochen hinweg in Besuchen, Gesprächen und anschließender Auswertung der Erfahrungen in der Seminargruppe sowie durch die Erstellung und Analyse von Transkriptionen kennen gelernt und erste Schritte der Forschungsmethode mit den Schülerinnen eingeübt. In der Fortsetzung des Seminars durch Anna-Lena Wiederhold und Elizabeth Ramirez soll dies noch vertieft werden. Als Abschlussarbeit für die Schülerinnen soll am Ende des Semesters ein „persönliches Themenheft“ stehen, in dem die Schülerinnen die erarbeiteten Materialien sammeln: ihre Tagebuchaufzeichnungen zu den Feldbesuchen incl. der selbstreflexiven Beschreibung der persönlichen Erfahrungen und Entwicklungen, Protokolle zu den Theoriesitzungen, eine fundierte Beschreibung des Forschungsortes und des Umfeldes der besuchten Straßenbewohner, die Präsentation eines für die persönliche Arbeit ausgewählten Kindes bzw. Jugendlichen, die von ihnen angefertigten und analysierten Transkriptionen sowie eine vertiefte Beschreibung des ausgesuchten Kindes bzw. Jugendlichen anhand dieser Analyse. Vertiefend oder alternativ ist auch eine Bearbeitung der Fragestellungen von Zeitvorstellungen und Zeitstrukturen von Straßenkindern oder deren Vorstellungen von Tod und Jenseits möglich – dies sind die Fragestellungen, denen Anna-Lena Wiederhold und ich in unseren Forschungsarbeiten nachgehen wollen.

Neben dieser Gruppe von Kindern und Jugendlichen in Medellín hat sich durch unser Wohnen in Copacabana aber noch eine zweite Gruppe von Kindern im Umfeld der Straße aufgetan: Kinder, in der Regel maximal 16 Jahre alt, die zwar ein Zuhause haben, aber die Schule nicht besuchen, und jeden Tag oder zumindest mehrfach in der Woche, vornehmlich am Wochenende, aus einem bestimmten Stadtteil Medellíns nach Copacabana fahren und dort die Zeit, d.h. den Tag und den ganzen Abend, damit verbringen, durch die Straßen, Cafés, Kneipen und Restaurants zu laufen und Süßigkeiten zu verkaufen. Es war möglich, zu einigen von ihnen einen Kontakt aufzubauen und nach und nach vertiefende Gespräche mit ihnen zu führen.

Für mich war Mitte Oktober die Zeit in Kolumbien für dieses Mal leider zu Ende – aber die zwei Monate dort haben tiefe Spuren in mir hinterlassen. Unglaublich intensiv war die Zeit mit den vielen Menschen, mit denen ich dort zu tun hatte: mit den Leuten, bei denen meine Frau und ich (und nach ihrer Rückkehr nach Deutschland nur noch ich) wohnen durften, mit der Arbeitsgruppe, den Schülerinnen und Studentinnen der ENS, den Salesianerschwestern, den anderen Lehrerinnen und dem weiteren Personal der ENS, den Kindern und Jugendlichen auf der Straße und vielen anderen Menschen, denen wir bei den verschiedensten Gelegenheiten begegnet sind und die uns gegenüber außerordentlich aufgeschlossen und freundlich waren. Viele von ihnen sind wohl heimlich mit nach Deutschland gekommen – denn ihre Gesichter sind auch hier noch überall präsent, schicken Grüße – und wecken permanent kleine Erinnerungen.