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Erste Erfahrungen in Medellín.

Ein Bericht von Malte Ottenhausen (März 2004)

Freitag, 19. März. Seit über einem Monat bin ich nun in Medellìn. Das anfängliche Gefühl der Absurdität ist geblieben, und einen Bericht zu verfassen, der vollständig ist, ohne inhaltlich widersprüchlich zu sein, scheint mir kaum möglich. Wenn ich den vergangenen Monat Revue passieren lasse, fallen mir spontan einige Situationen ein, die ich als besonders beeindruckend in Erinnerung behalten werde und hier beispielhaft für unzählige aufregende Erfahrungen niederschreiben möchte.

Es ist Mittwoch spät abends. Wir sollen uns mit Padre Louis Carlos und John im Zentrum Medellìns, vor dem leerstehenden Patio, treffen. Während wir warten, sammeln sich immer mehr Straßenkinder um uns. Jeder von ihnen hält eine Klebstoffflasche unter seinem Hemd verborgen. Viele der Jugendlichen sind zu alt für den Patio bzw. die Albergue. Zwar gibt es Institutionen, die mit den älteren Kids arbeiten. Die Chancen, ihnen eine Zukunft zu ermögliche, stehen allerdings schlecht. Zu lange schon sind sie drogenabhängig. Einige legen sich auf den Boden, rollen sich zusammen, stehen wieder auf, saugen an ihrer Flasche. Die Unterhaltung gestaltet sich schwierig, und die Situation hat etwas sehr Bedrückendes...

Der Padre kommt an, und wir machen uns auf den Weg nach Bello. Dort unter einer Brücke machen wir uns auf die Suche nach Straßenkindern. „Operación amistad“ nennt sich dieser Versuch, wenigstens einige der Kids in die Projekte zu holen.

Unter der Brücke fließt ein kleiner Fluss, Müll türmt sich rechts und links auf, lässt nur ein Rinnsal passieren. Der Geruch von Verwesung hängt in der Luft. Vor einer Mauer sitzen in langer Reihe ca. 30 Gestalten. Man kann ihr Alter schlecht schätzen. Hauptsächlich Jugendliche und ältere Männer, aber auch Frauen und einige Kinder. Unter ihnen Hernando, ein vielleicht 10-jaehriger Junge. Seine schmutzigen Hände nesteln unentwegt an einer Streichholzschachtel mit Basuco. Immer wieder stopft er sich seine Pfeife, saugt den giftigen Rauch in die Lungen. Man spürt deutlich, wie es den Padre jedes Mal trifft, wenn der kleine Junge wieder zur Pfeife greift. Dann scheinen seine weit aufgerissenen Augen wieder den Halt zu verlieren, den sie kurz zuvor beim Padre gefunden haben, rollen wie irr herum oder starren ins Nichts. Ich erschrecke, als ich meinen Arm auf seine Schulter lege, so dünn und ausgezehrt ist sein Körper. Der Rausch durch Basuco hält nur kurz an, immer wieder braucht der Körper eine neue Dosis. Das Gefühl von Hunger verschwindet dann. Alle Menschen dort unter der Brücke rauchen Basuco, einige schnüffeln pegante (Klebstoff). Manchmal tauchen neue Gestalten aus dem Dunkel unter der Brücke auf, wo einige Schlafplätze sind, andere verschwinden lautlos. Mit unglaublicher Geduld und Einfühlungsvermögen spricht der Padre mit Hernando. Doch an diesem Abend haben wir keinen Erfolg. Weder Hernando noch einer seiner Freunde will die Strasse bzw. die Drogen lassen. Ein kleiner Lichtblick, für nächsten Mittwoch hat der Padre Hernando und einige andere zum Fußballspielen eingeladen. Es ist ein langer Prozess, das Vertrauen dieser Kinder zu gewinnen. Doch wenn man den Unterschied zwischen diesen Kindern und denjenigen in den „Programmen“ sieht, weiß man, dass es sich lohnt.

Am nächsten Morgen mache ich mich mit Sor Dora, Freddy und Koko auf den Weg in die Comuna 13, die häufig als Beispiel für den Erfolg der Politik Alvaro Uribes angeführt wird. Noch vor zwei Jahren war dieser Bezirk unter der totalen Kontrolle der Guerilla. Das Militär rückte dann mit Hubschraubern und Panzern vor und vertrieb nach harten Gefechten (auch mit der Hilfe der Paramilitärs) die Guerilla. Wir treffen uns mit einem Mitarbeiter von YMCA, der mit den Jugendlichen der verschiedenen Barrios der Comuna arbeitet. Bei dem sehr interessanten Gespräch erfahren wir unter anderem, dass jetzt das Paramilitär die Oberhand in der Comuna hat Ohrringe für Jungen sind jetzt verboten, und wenn Mädchen bauchfreie Tops tragen, werden ihnen die Buchstaben „A U C“ (Autodefenzas Unidas de Colombia) mit einem Messer in den Bauch geschnitten. Das Militär, das eine Basis über der Comuna hat, toleriert die Paramilitärs und arbeitet teilweise sogar mit ihnen zusammen. Wenn jetzt in der Comuna gemordet wird, werden die Leichen in andere Gegenden der Stadt gebracht. Das schönt die Statistik und heißt, dass die Eroberung der Comuna 13 auch weiterhin auf dem Papier als Erfolg des Staates gelten kann.

Etwas später: Wir treffen uns mit Eduard, einem Rapper, und werden von ihm durch die verschiedenen Barrios geführt. Man muss sich die Comuna 13 wie eine geöffnete Hand vorstellen. Die Handfläche – das ist das Barrio 20 de Julio, und jeder einzelne Finger ist ein anderes Viertel. Zwischen den einzelnen Vierteln gab es bis vor kurzem keine Verbindung. Da sind die Ausläufer des Gebirges, und nur über sie hinweg kann man die "Handfläche“ erreichen. Die einzelnen Barrios wurden von verschiedenen rivalisierenden Gruppen kontrolliert. Man kann sich die Brisanz der Lage gut vorstellen. Jetzt gibt es Brücken und Telefonzellen und Treppen. Doch für diese Verbesserungen bezahlen die Bewohner einen hohen Preis in Form von Steuern: Jetzt, da die Comuna wieder in der Gewalt des Staates ist, müssen die Menschen für ihre Häuser zahlen. Wie sie das Geld verdienen sollen, bleibt ein Rätsel. In Kolumbien gibt es kein Arbeitslosengeld, und bei soviel Armut sind selbst die undankbarsten Jobs äußerst begehrt. Hinzu kommen die regelmässigen Schutzgeldforderungen der Paras. So entsteht eine ausweglose Situation, aus der diejenige Verzweiflung entspringt, die Medellin zur gewalttätigsten Stadt der Welt macht.

Hier werde ich täglich mit einer Armut konfrontiert, die mir anfänglich gar nicht bewusst war. Bizarre Situationen: Da steigt ein kleiner Junge nachts in den Bus ein und beginnt, ein Lied zu singen. Dabei geht er auf und ab und schlägt zwei Plastikschalen rhythmisch zusammen. Dann bittet er um ein wenig Geld. Oder die junge schwangere Frau, die uns beim Fußballspielen zusieht. In der linken Hand hält sie dabei eine Flasche Schnaps. Oder der junge Soldat, der mich bei einer Straßenkontrolle durchsucht, ein Maschinengewehr in der Hand. Beim Lächeln entblößt er eine Zahnspange. Vieles passt hier nicht zusammen. Kleine Kinder, die morden und vergewaltigen. Vieles wird mir immer unverständlich bleiben. So etwa die Todesschwadronen, die nachts Straßenkinder abschießen. Anfangs hatte ich eine seltsame Distanz zu diesen Geschichten und überhaupt zu allem, was ich erlebte. Doch durch die tägliche Arbeit mit den Kids und die Besuche in den Comunas kann ich jetzt den Geschichten Gesichter geben. Das ermöglicht mir einen anderen Zugang.

Ich könnte, wie mir scheint, ewig so fortfahren und weiter erzählen. Immer neue Situationen fallen mir ein, Kleinigkeiten, die in der Summe das Bild ergeben, das ich mir inzwischen von diesem Land mache. Es ist zwecklos, alles Erlebte niederzuschreiben, jeder muss selbst seine eigenen Erfahrungen machen.

Vielleicht erweckt dieser Bericht den Eindruck, Kolumbien sei ein ganz schreckliches Land. Aber das ist es nicht, im Gegenteil. Es ist ein großartiges Land. Gerade dort, wo mir die Lage am traurigsten und hoffnungslosesten vorkam, habe ich Menschen getroffen, die mit einer unglaublichen Leidenschaft und Ausdauer für Verbesserungen kämpfen. In Moravia zum Beispiel, in der Comuna Nortoriental, überall gibt es Schulen und Institutionen, die mit dem Wenigen, was ihnen zur Verfügung steht, Unglaubliches leisten. Unzählige Menschen, und vor allem die Kinder, meistern ihr Leben trotz des Leides und der Gewalt. Vor ihnen habe ich großen Respekt. Das sind nicht die namenlosen Kinder aus den Werbespots von UNICEF, diejenigen mit den großen Kuller-Tränen vor klassischer Hintergrundmusik. Vielmehr sind dies Oscar, Juán Carlos, Jonathán, Camilo und all die anderen. Der Unterschied zwischen Kolumbien und Deutschland ist nicht so groß, wie wir vielleicht glauben möchten.