Neuer Studiengang Straßenkinderpädagogik.
Bericht über meinen Aufenthalt in Kolumbien
vom 28. März bis 19. April 2004
Hartwig Weber (April 2004)
• Neues von Patio 13:
• Patio Don Bosco renoviert und neu eingeweiht
• Computer für Straßenkinder am Netz
• Medizinisches
• Studiengang „Straßenkinderpädagogik“ gestartet
• Wieder aufgetaucht: Marcela
Senor Lopez
Im strahlenden Glanz seines Alters und mit seiner ganzen Lebenslust sitzt Senor Lopez auf dem wackeligen braunen Imitationsledersessel vor seiner Hütte, von wo aus er einen großartigen Rundblick über die sich zu seinen Füßen ausbreitende Stadt hat - beziehungsweise hätte, wenn er nicht von dem Kleinen auf seinem Schoß abgelenkt würde, der fröhlich quiekt und dabei die beiden ersten Zähnchen – in der Mitte unten – zeigt. (Abb.1: Senor Lopez) Nein, lacht er, das sei nicht sein Enkel, sondern sein Sohn, sein letzter, vorerst jedenfalls.
Schließlich sei er selbst ja schon 72. Keine Rede von versiegender Kraft. Er habe bereits Kinder von fast 50, sechs von dieser Sorte. Und sieben Enkel. Und dann gebe es noch zwei Urenkel. Zwei weiteren Kindern der Mutter des Kleinen da auf seinem Arm, denen habe er, obwohl sie von anderen Männern stammten, ebenfalls seinen Namen – Lopez - gegeben. (35 sei sie, seine fleißige Frau, die gut verdient und viel nach Hause bringt.) Na ja, dann gibt es noch die anderen Kinder, die unehelichen, „hijos naturales“, Kinder der Liebe. Wie viele das sind, weiß er nicht so genau. Mindestens noch mal sechs. Schätzungsweise. So spielt das Leben eben.
Comuna 13
Das Gespräch im Vorübergehen hat nur wenige Minuten gedauert. Senor Lopez steht auf, verabschiedet sich mit Handschlag und bedankt sich für das Interesse an seiner Person. Sein Haus hängt wie ein Schwalbennest an den Abhängen der Comuna 13, dem berüchtigsten Teil des Elendsgürtels über der Millionenstadt Medellín, der im August letzten Jahres in die Schlagzeilen geriet, als tagelang die Helikopter darüber donnerten und das Militär mit schweren Waffen in die Viertel hineinschoss, bis sich die rivalisierenden Gruppen der Guerilla, insbesondere der FARC, und der Paramiltärs zurück zogen bzw. sich in den Hütten verkrochen. Die Comuna 13 besteht aus 29 Barrios, 45 000 Menschen wohnen hier. (Abb. 2: Comuna 13 a) Bis zur Invasion der Soldaten war die Gegend ein von immer neuen Flüchtlingswellen überrollter, sozusagen exterritorialer und rechtfreier Raum, ohne jegliche staatliche Präsenz, ohne Polizei, soziale Dienste, medizinische Versorgung, Schulen.
Die Guerilla hatte die Organisation des Gemeinwesens übernommen, übte die soziale Kontrolle aus, sorgte für Disziplin, setzte ihre Ideologie mit Gewalt und harten Sanktionen durch. Gleichzeitig gewann die Drogenmafia immer mehr Einfluss. Dann traten die Paramilitärs auf, die sich als Selbsthilfegruppen verstehen, verbündeten sich, genauso wie die Guerilla, mit Gruppen der „Narcos“, des Drogenhandels, und finanzierten mit Rauschgift ihre Geschäfte. Der Krieg zwischen den drei Gruppen, deren brutale Verbrechen sich in nichts voneinander unterscheiden, führte zu einer Aufteilung der Gebiete, die von den jeweiligen Machthabern hermetisch gegen Außenstehende abgeschlossen wurden. Im letzten Jahr hörte man vor allem nachts stundenlange Schießereien zwischen den Barrios. Inzwischen ist es ruhiger geworden.
Der Staat trat erst auf den Plan, als er merkte, mit welch rasanter Geschwindigkeit ihm das Problem auf den Leib rückte. Schließlich hat man vom Zentrum der Macht und Verwaltung, beeindruckenden Hochhäusern nahe dem Platz La Manga (wo sich früher die Straßenbewohner tummelten und jetzt, nachdem man sie vertrieben hat, ein repräsentativer Park entsteht), einen freien Blick auf das Pulverfass der Comuna 13. Die Auswirkungen der „Operación Orión“ auf die Barriobewohner waren katastrophal. Es gab unzählige Tote. Viele Menschen flohen ins Stadtzentrum oder in andere Viertel. Unter den Straßenkindern trifft man immer wieder auf innerstädtische Flüchtlinge. Seit dem staatlichen Zugriff herrscht im Elendsgürtel eine Atmosphäre des kalten Krieges. Die Armut der Armen hat nach den Steuererhebungen, die die Leute absolut nicht gewöhnt waren, beängstigend zugenommen. Noch immer gibt es tagtäglich viele Tote. Offenbar schießt man nicht mehr so häufig mit Pistolen und Gewehren, sondern benutzt lieber Plastiktüten, die dem Opfer über den Kopf gezogen werden, bis es erstickt. Die Leichen werden dann zerstückelt, in handlichen, tragbaren Portionen verpackt, und die Taxifahrer, die sich hier oben blicken lassen, müssen die Pakete dann nach unten transportieren.
Die Comunas sind Hochburgen des Drogenhandels. Die Jugendlichen, die sonst keine Chance hätten, überleben mit dem, was sie beim Verkauf von Koka, Marihuana und Basuco verdienen. Die Paramilitärs führen ein rigides moralisches Regime. In ihrem Einflussgebiet gehen sie gegen die Mädchen vor, die sich nabelfrei kleiden (das ist hier so üblich), indem sie ihnen die Machete über den Bauch ziehen. Die Jungen werden gezwungen, sich ihnen anzuschließen. Nicht wenige Jugendliche im Patio sind deshalb aus der Wohngegend ihrer Familien in den Comunas geflohen . (Abb. 3: Comuna 13 b)
An Fuß der Comuna 13, im Barrio San Javier, hat Frau Ute Sonntag aus Hamburg ein Haus eröffnet, das sie „Kinderhilfe“ nennt und das verhindern soll, dass die Kleinen auf der Straße landen. Die Mädchen ab sechs Jahren mit ihren wachen Augen, schwarzen Locken und gepflegten Schuluniformen, die dort vor und nach der Schule betreut werden, kommen aus unbeschreiblichen Familienverhältnissen: ermordete Väter, erschossene Angehörige, Gewalt und Missbrauch an der Tagesordnung.
Trotz allem deutet sich nach 17 Monaten, die Alvaro Uribe nun Präsident ist, ein politisches Wunder in Kolumbien an – es geht voran. An Ostern machten sich wieder Konvois von Touristen auf den Weg, zum Beispiel von Bogotá nach Medellín, von Medellín nach Cartagena, geführt und bewacht vom Militär mit schweren Waffen. In den ersten beiden Monaten dieses Jahres sind Gewalt und Kriminalität beträchtlich geschrumpft. Allein in Medellín wurden in den Monaten Februar und März 2004 270 Menschen, das heißt 50 Prozent, weniger umgebracht als im Vorjahr, gleichzeitig wurden 30 Prozent weniger Autos geklaut. Übrigens waren von den (meist mit Feuerwaffen) getöteten Opfern mehr als 50 Prozent Kinder und Jugendliche. Aber immer noch gibt es etwa 165 kriminelle Banden in der Stadt, und im Gefängnis Bellavista („Schöne Aussicht“), das für 1700 Personen Platz vorsieht, sitzen etwa 5000 Männer ein. Letztes Jahr sind etwa 900 Paramilitärs des „Blocks Cacique Nutibara“ in Medellín übergelaufen und haben ihre Waffen abgegeben. 328 der jungen Leute sind inzwischen in Schulen, Universitäten und sonstiger Ausbildung untergebracht, für 600 steht das noch aus. Die Popularität Uribes ist weiter gestiegen: sie liegt derzeit bei unglaublichen 80 Prozent (Toledo in Peru: 3 Prozent, der Populist Chavez in Venezuela: 30 Prozent). Leute, die in den siebziger Jahren mir gegenüber offen mit der Guerillabewegung M-19 sympathisierten, setzen heute (voller Staunen wohl auch über sich selbst) auf Uribe und meinen entschuldigend, man müsse halt die besondere Situation Kolumbiens berücksichtigen.
Neubeginn im Patio
Nach umfänglichen Renovierungsarbeiten– unter dem Staub des alten, verrotteten Schulhauses kam ein beachtliches Backsteingebäude aus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert mit hohen Räumen und schönen Holzarbeiten zum Vorschein – ist der Patio Don Bosco am 31. März wieder eröffnet worden. (Abb. 4: Patio Don Bosco a) Wie es sich gehört mit Ansprachen wichtiger Persönlichkeiten, eingerahmt von der kolumbianischen Nationalhymne am Anfang und der Hymne von Antioquia am Schluss. Die Kids, die vorübergehend in der Albergue auf Halbhöhe über der Stadt untergebracht wurden, waren aufgeregt und stolz auf ihr neues Haus.
Dann dauerte es ein paar Tage, bis sie sich beruhigten und der Alltag einzog. Man wird sehen, wie sich diese ästhetische Verbesserung auf den Zustrom der Kinder von draußen auswirken wird. Jedenfalls ist die Schwelle höher und der Druck, in Ordnung zu halten, was so schön aussieht, stärker geworden. (Abb. 5: Patio Don Bosco b) Vor dem Eingang haben sich wieder wie früher unsere alten Freunde eingefunden, Nathalie, Nena und Gorras, der nun mit Monica liiert ist, und eine ganze weitere Schar, die sich die Nasen an den neuen, mit Gittern gesicherten Scheiben platt drücken, und doch nie hinein kommen werden, weil sie zu alt sind und die Chance des rechten Zeitpunkts längst verpasst haben.
Compterraum im Patio
Im zweiten Stock ist ein Raum abgetrennt, in dem die sechs Computer (jeweils mit Eisenbeschlägen gesichert) aufgestellt sind, die den Kindern von Patio 13 demnächst den Zugang zur weiten Welt des Internets eröffnen sollen, schöne Geräte mit den neuesten Programmen von Microsoft. (Abb. 6: Computer) Deren Finanzierung durch „Officium et Humanitas“ sowie durch Projektmittel von Patio 13 war eine Sache, die Entwicklung einer Konzeption, wie die Kinder und Jugendlichen an den Umgang mit den Zaubermaschinen herangeführt und in den Gebrauch des Internet eingeübt werden können, eine andere. Die Dozenten der Normal und die Kollegen von der Universität, unterstützt von Studenten und Studentinnen, die im Projekt mitarbeiten, sind jedenfalls eifrig dabei, zu überlegen, wie von ihrem Sachgebiet her – Mathematik, Physik, Spanisch als Muttersprache, Erstlesen und Schreiben – Brücken zu dieser neuen Wunderwelt geschlagen werden können. Hans-Werner Huneke, inzwischen Institutsdirektor in Ludwigsburg, und Thomas Möbius werden die Computerarbeit mit derjenigen in der Druckwerkstatt verbinden, während sich Manuela Welzel, Elmar Breuer und Antony Crossley über Physik und Mathematik unter Computereinsatz Gedanken machen. Gleichzeitig bereiten sich drei Studentinnen aus Heidelberg darauf vor, bei einem Aufenthalt in Medellín ab Oktober 2004 auf diesen Gebieten mitzuarbeiten.
In Zukunft werden die gegenseitigen Besuche der Stipendiaten und Praktikanten so vorbereitet, dass die deutschen Studentinnen und Studenten bereits vor ihrer Ausreise sich für ein eigenes Teilprojekt (zum Beispiel: „Einrichtung einer Bibliothek für Straßenkinder“) entscheiden und Kontakt mit ihren „contrapartes“ in Medellín aufnehmen, die das Vorhaben vor Ort vorbereiten. Außerdem wird in die jeweilige Teilprojektgruppe ein „educador“ von Don Bosco eingebunden, so dass das Projekt nach Abreise der deutschen Besucher auch weiter läuft.
Im Patio Don Bosco wird eine „coordinadora“ des Projekts – als erste wohl Luiza, die gerade ihren Studienaufenthalt in Deutschland beendet hat - täglich präsent sein. Von montags bis freitags werden zukünftig Gruppen von Studentinnen der Normal kommen und allein oder unter Begleitung ihrer Dozentinnen und Dozenten ihre Vorhaben durchführen. Ziel (eine weitere Utopie?) ist es, allen Straßenkindern des Patio die Primaria-Reife (die man in der Schule nach 5 Jahren erreicht) zu vermitteln. Dabei wird man sich weniger an Inhalten als an den dafür erforderlichen Kompetenzen orientieren. Die Evaluierung nimmt dann die Secretaria de Educación vor. Jorge Marulanda, Experte der Normal in Computerfragen, wird die Studentinnen, die educadores und einzelne Kids des Patio (zum Beispiel Rolo) als Multiplikatoren für Computer und Internet ausbilden. Die Kinder sollen zunächst anhand von Spielen in den Gebrauch der Geräte eingeführt werden.
Medizinstation
Malte Ottenhausen, Medizinstudent aus München, hat während seines Praktikums von Februar bis April 2004 erste Schritte unternommen, um im Patio eine medizinische Lern- und Praxisstation aufzubauen. (Abb. 6: Malte) Zuerst wurden die Studentinnen in einem Kurzlehrgang medizinisch geschult, dann brachten sie ihr Wissen im Patio gleich „an den Mann“. Die Kids waren begeistert, als sie mit Salben bestrichen und mit Verbänden drapiert wurden. Malte stellte fest, dass Straßenkinder in der Regel ein sehr unaufmerksames, wenig liebevolles Verhältnis zu ihrem Körper haben, den sie benutzen und gegebenenfalls beschädigen wie ein wenig wertvolles Instrument. Dieser Beobachtung werden die Studentinnen nachgehen und die Kids zu einem veränderten Verhalten sich selbst gegenüber zu gewinnen suchen.
Darüber hinaus betätigte sich Malte als Fußballtrainer. Er regte Spiele zwischen dem Straßenvolk und Mannschaften der Normal sowie aus Copacabana an, wobei sich unsere Kids wacker schlugen. Kurz vor Maltes Abreise fand ein letzter Match statt. (Abb. 7: Fußball) Als die Sonne hinter den Bergen verschwand, die Nacht plötzlich anbrach und die Lichter der Stadt aus der Ferne zum Spielfeld über Copacabana herauf leuchteten, lagen einige Opfer der Schlacht wie Halbleichen am Rand des Fußballfeldes, um dann zufrieden hinunter zum Bus zu hinken. Zwischen normalen Jungen und Straßenkids gibt es, wenn sie Fußball spielen, keinen feststellbaren Unterschied.
Studiengang eröffnet
Am 3. April wurde der Studiengang „Pedagogia de los ninos y jovenes de la calle“ im repräsentativsten Saal der Universidad de Antioquia feierlich eröffnet. Die Universität und die Normal haben einen sehr ansprechenden Flyer mit Bildern aus dem Projekt drucken lassen. (Abb.8: Flyer)
Diesmal waren die Reden eingerahmt von der Hymne von Antioquia und der der Universität, die man natürlich stehend anhört. Die für die erste Ausschreibung vorgesehenen 25 Plätze waren im Nu doppelt besetzt, obgleich die Studenten dafür selbst bezahlen müssen. Möglicherweise wird gleich ein paralleler Zug eingerichtet. Es gibt zahlreiche Stipendien. Der Chef der Secretaria de Educación, der gleichzeitig „gerente“ einer potenten Cooparative ist, bot in seiner Rede großzügige finanzielle Unterstützung an und empfahl, die Lage der Flüchtlings- und Straßenkinder auch außerhalb der Stadt unter den Inhalten des „diplomado“ zu berücksichtigen.
Anschließend trafen sich die für die Durchführung des Studiengangs verpflichteten Dozenten (Ethnologe, Soziologe, Psychologe, Mathematiker, Historiker, Arzt, Pädagoge, Didaktiker) und die Teilnehmer, unter ihnen Studenten verschiedener Universitäten und der Normal (Nathalie, Cristine, Katherine, Ana Marcela, Alejandra, die sich gerade um ein Stipendium für einen Aufenthalt in Heidelberg bewerben) sowie Leute aus der Praxis, unter ihnen Straßenarbeiter aus der Comuna 13 und auch ein Polizist. Fredy Villa (Anthropologe) und Lina (Literaturwissenschaftlerin) leiteten das Gespräch mit einem Spiel ein, das dazu anregte, über sich selbst, die eigenen Erfahrungen mit dem Thema und die Erwartungen an den Studiengang zu sprechen.
Am 17. April wird das erste einführende Wochenendseminar stattfinden, das Marco Antonio (Soziologe von der Universidad de Antioquia) leitet.
Marcela endlich gefunden
Marcela, mein erster Straßenkontakt am Anfang des Projekts, die beim Fotoworkshop mitgemacht hat und später die Protagonistin des Films „Mondstraße, Sonnenstraße“ war, besuchte ich im letzten Jahr im Gefängnis „El Buén Pastor“, wo sie wegen Drogendealens einsaß und auf ihren Prozess wartete (Perspektive: 8 Jahre minus x, je nach guter Führung und weiterem Entgegenkommen gegenüber der Behörde). Nach anfänglichen Eingewöhnungsschwierigkeiten schien sie sich dort wohl zu fühlen, zumal sie in einer Gefängniswerkstatt arbeiten konnte, wo Knöpfe für Jeans gestanzt wurden. Später, als es allerlei undurchschaubare Wirren um das Gefängnis gab (Streit um die Miete des Gebäudekomplexes), setzte man sie auf die Straße (ihre Eltern hätten dafür 90 000 Pesos, 30 Euro, aufbringen sollen, was sie ablehnten). Von da an war sie spurlos verschwunden. Sor Sara konnte sie trotz monatelanger Sucherei nicht aufspüren. (Abb. 9: Marcela a)
Am Samstag, 3. April, waren wir, Sor Sara und ich, nach einem Tipp von Gorras, ihrem einstigen Liebhaber, im Viertel Naranjal unterwegs. Die Straßen dort sind mit Dreck und Öl verschmiert, das aus den Lastwagen herausläuft, die hier repariert werden, ein übles Viertel, ähnlich wie Barrio Triste (Guayaquil), wo der Patio ist, nur noch bedrohlicher, die Leute gewalttätiger. Wir fragen, schauen in diesen und jenen Eingang hinein, bleiben endlich vor einer „cueva“ stehen, dem Schlimmsten, was es an Behausungen gibt, wo hundert bis zweihundert abgerissene Gestalten, Männer und Frauen, bekifft, verdreckt und aggressiv, in einem einzigen Gebäude von der Größe eines Einfamilienhauses hausen, in Räumen mit übereinandergenagelten Pritschen, wie Legebatterien für Hühner: die Höhlen der Drogenkonsumenten und Prostituierten, der Ärmsten der Armen, die dem Besitzer eines einzigen Hauses Tag für Tag unvorstellbare 2 bis 3 Millionen Pesos (1000 Euro) für Miete und Beteiligung am Drogenumschlag einbringen sollen, während die sexuelle Gewalt dort drinnen die Frauen unablässig bedroht.
Plötzlich taucht Marcela von irgendwoher auf. Sie lacht und weint gleichzeitig, umarmt uns, während wir das Entsetzen bei ihrem Anblick kaum verbergen können. Völlig verdreckt ist sie, trägt Lumpen statt Kleider, nabelfrei, stinkend, die Mundränder voller Blasen, die Augen gerötet, und stößt, was am allerschlimmsten ist, beim Sprechen nur ein stimmloses Gekeuche, Japsen und Stöhnen hervor, so dass kaum ein Satz zu verstehen ist. Die zerzausten Haare hat sie rot gefärbt, Augenlider und Brauen nachgezogen. Sie sieht krank aus, abgemagert, die Haut ist voller Flecken, die Zunge mit einer dicken weißen Pilzschicht belegt. Wenn sie zu husten anfängt, kann sie nicht mehr aufhören. Ihr Zustand, sagt sie, komme von einer Erkältung, auch von dem „vicio“ (Drogen), und sie habe eine Geschlechtskrankheit. Ihre Fingerspitzen sind braun und aufgeschürft wie die Hände eines Waldarbeiters, die Fingernägel schwarz und abgebrochen. So ist das bei den Drogenabhängigen, sie bearbeiten die Backsteine („adobes“) der Zimmerwände, bis dort regelrecht Löcher entstehen, und den lockeren Sandstaub mischen sie dem Rauschgift bei, um es zu verlängern.
Während sie in einem nahen Straßencafé isst – sie verschlingt eine Riesenplatte mit Fleisch, Reis und Salat und trinkt dann noch zwei große Schalen mit Milch und gekochtem Mais aus -, erzählt sie, dass sie sich nach der Freilassung aus dem Gefängnis in ihrer alten Gegend aufhalten wollte: „Die Gefühle und Erinnerungen auszuhalten, ist schlimmer als die härtesten Alltagsverhältnisse.“ So ging sie weg und suchte das Viertel Naranjal als neue Bleibe aus, ein enormer Abstieg gegenüber der Gegend um den Patio, die an sich schon arg verrufen ist. In der „cueva“ kann sie kostenlos übernachten, denn sie zieht dort Freier und Drogenkonsumenten an. Geht man um das Gebäude herum, führt von der rückwärtigen Straße ein schmaler Gang zu einem weiteren Gebäude, wo sie, wenn sie nicht arbeitet, schläft und ihre Habseligkeiten untergebracht hat. Das sei keine „cueva“, erklärt sie, sondern eine „plaza“, keine Drogen- und Prostituiertenhöhle, sondern ein Schlafplatz. In Wirklichkeit sind dort die Wohnverhältnisse ähnlich und die permanente sexuelle Gewalt kaum weniger brutal. Kein Außenstehender wagt sich hinein, nicht mal in die Nähe. Die Leute, die dort hausen, haben Angst, ausgespäht, von der Polizei ausgehoben oder von Todesschwadronen umgebracht zu werden. So reagieren sie äußerst aggressiv, wenn man zu nahe kommt.
Nach kurzer Zeit kann Marcela nicht mehr ruhig sitzen bleiben, sie wird unruhig, zappelt hin und her; nach den ersten Entzugserscheinungen kommen die Schmerzen. Schließlich krümmt sie sich zusammen und wälzt sich weinend am Boden. (Abb. 10: Marcela b) Da sie keine Papiere, geschweige den Geld hat, gibt es auch keine medizinische Hilfe für sie. Wir wollen trotzdem einen Weg suchen und verabreden uns. Am nächsten Tag laufe ich zweimal durch das Viertel, mache mich dem Finsterling am Eingang der „cueva“ vertraut, frage die Leute aus, die unablässig aus der „plaza“ auf der Rückseite herauskommen oder hineingehen, vergebens. Sor Sara meint später, die Menschen hier wären misstrauisch, ängstlich und gefährlich und beobachteten uns gespannt hinter den Vorhängen, weil sie nicht gewohnt seien, dass Fremde hierher kommen. Ich habe eher den Eindruck, dass sie uns exotisch finden. Niemand denkt daran, den Verkauf der Paketchen mit Drogen einzustellen, selbst wenn ich direkt daneben stehe. Wir beiden, Sor Sara und ich, gehen nach wenigen Tagen hier als „la hermanita y el padre“ durch. Was soll uns da noch passieren?
Am übernächsten Tag finden wir Marcela endlich wieder. Der junge Arzt von „Bienestar Familiar“ verordnet Mittel für Waschungen und verschreibt ihr Antibiotika. Aber wie sollte sie sich denn in diesem Ambiente sauber halten und Medikamente regelmäßig einnehmen, wenn sie doch ständig bekifft ist? Wir würden sie am liebsten zu ihren Eltern bringen; aber eher wollte sie sterben, als das, sagt sie. Am nächsten Tag kommt sie weinend aus der „cueva“. In der Nacht hat man ihre gestrigen Einnahmen und ihre Kleider gestohlen. Sie zieht jetzt ein knöchellanges schwarzes Strickkleid an und trägt spitze Absätze von mindestens zehn Zentimetern Höhe – das ist wohl ihre Abendtracht. Weitere zwei Tage später hat Sor Sara die Möglichkeit einer stationären Aufnahme in einem Krankenhaus aufgetan. Aber jetzt will sie davon auf einmal nichts mehr wissen. Obwohl ihr klar ist, dass sie so, wie die Dinge stehen, nicht mehr lange zu leben hat. Vielleicht hat sie Angst vor dem Entzug? Übermorgen oder in drei Tagen sei sie bereit, wehrt sie ab. Dann finden wir sie nicht mehr.