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Das blutende Herz

 
News / Aufenthaltsbericht 2006

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Momentaufnahmen.
Bericht von meinem Aufenthalt in Kolumbien
vom 31. Juli bis 25. August 2006

Hartwig Weber

Kurzfassung:

- (1) Projektinvasion aus Deutschland: Zur Zeit hält sich eine ganze Gruppe deutscher Projektmitarbeiter in Kolumbien auf.

Jeder einzelne von uns verfolgt seine Forschungs- und Praxisideen und trägt zur Weiterentwicklung des Projekts bei: Manuela Welzel (Physik für Straßenkinder), Ute von Kalden (neue Medien), Anna-Lena Wiederhold (Forschungsprojekt „Religion der Straße“), Elmar Breuer (Physik), Manfred Ferdinand („Religion der Straße“), Koko Steiner, Rüdiger Wilms mit einer handvoll Jugendlichen (Theaterprojekt Mahagonny) und ich in Medellín auf.


Manfred Ferdinand, Ute von Kahlden, Victor Marín und Sor Sara
in Andalucia-La Francia

- (2) Druckmaschine: Wir erwarten hier die Ankunft der Druckmaschine, die die Heidelberger Druckmaschinen AG dem Projekt gespendet hat. Damit wird die Alphabetisierungsarbeit mit Straßenbewohnern fortgesetzt.


Ausbildung am Tiegel: Nataly, Elizabeth, Alejandra und
Peter Kollenz

- (3) Straßenkinderzeitung: Die bei der Heidelberger Druckmaschinen AG ausgebildeten und noch auszubildenden Stipendiaten werden mit Hilfe der Druckmaschine als erste Aktion eine Straßenzeitung produzieren, die ganz von Beiträgen der Straßenkinder lebt.

- (4) Die Patio13-Nachrichten in deutscher und spanischer Sprache, in gedruckter und digitaler Version, sind fertiggestellt. Die deutsche Druckausgabe wird ab September verschickt.

- (5) Masterstudiengang Straßenkinderpädagogik: Nach Verhandlungen mit der Universidad Externado de Colombia startet der Maestria-Studiengang Straßenkinderpädagogik dort im Frühjahr 2007.

- (6) Marcela: Nachdem die junge Frau, die wir seit Projektbeginn (2001) begleiten (wir haben von ihr in unseren Veröffentlichungen berichtet und einige Videodokumentationen mit ihr gemacht), in den letzten Monaten ganz entschwunden war, haben wir sie wieder aufgefunden.

- (7) Theater, Kunst auf der Straße: Mit der Schauspielergruppe eines kleinen Theaters in Medellín sowie mit einer Kommune von Künstlern (Malern) erproben wir derzeit neue Methoden der Kontaktaufnahme und Kommunikation mit Straßenbewohnern.

- (8) Publikationen: Im September erscheint unser neues Buch „Das Blutende Herz. Religion der Straße“ bei der Büchergilde Gutenberg sowie in der Edition Büchergilde. Es ist die erste Frucht eines von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg geförderten Forschungsprojekts. Die spanische Übersetzung folgt im nächsten Jahr. Auch der Jugendroman „Treffpunkt Plaza Bolivar“, dessen erste spanische Übersetzung („Punto de encuentro: Plaza Bolivar“) vergriffen ist, wird demnachäst in einer neuen, sprachlich verbesserten spanischen Ausgabe erscheinen.

- (9) Straßenschwangerschaften: Straßenkinder gebären Straßenkinder: Was Sor Sara und mich gegenwärtig besonders beschäftigt, ist die Frage, was mit den Kindern passiert, die Kinder auf der Straße gebären.


Barrio Triste im Zentrum Medellíns

 

Momentaufnahmen

Wenige Tage nach meiner Ankunft hat die zweite Periode der Präsidentschaft Álvaro Uribes begonnen. Wie bei jedem Regierungswechsel in Kolumbien üblich, wird diese Phase von Attacken der Guerilla begleitet, von Überfällen auf Militärs und Militärfahrzeuge, drei allein am 31. Juli, meinem ersten Tag in Bogotá.
In der Zeitung steht, dass dem Präsidenten unterwegs im Flugzeug ganz zufällig das neue Buch des indischen Wirtschaftswissenschaftlers Prahalad in die Hand gefallen sei, in dem u.a. zu lesen ist: „Wenn wir aufhörten, von den Armen als Opfern und als Last zu sprechen, und sie stattdessen als kreative Unternehmer anerkennten, würde sich eine Welt neuer Möglichkeiten auftun.“ Die Anekdote vom Präsidenten und dem Buch könnte immerhin auf eine Akzentverschiebung in der aktuellen Regierungspolitik hindeuten – hin zu mehr sozialem Engagement. Dabei stünde die Vorstellung im Mittelpunkt, dass die Zukunft des Marktes nicht bei den wenigen Superreichen der Welt und auch nicht bei den Konsumenten der Mittelschichten, sondern bei den Milliarden von Armen liegt. Allerdings müssten diese erst einmal in die Weltwirtschaft integriert werden. Man darf gespannt sein, welche praktischen Konsequenzen Uribe aus dieser Erkenntnis zieht.

(1 )Projekt-Invasion aus Deutschland
Über meine letzten Aufenthalte in Kolumbien habe ich nicht berichtet – aus Zeitmangel. Das schadet dem Informationsfluss wie der Dokumentation des Projektfortgangs. Ich werde versuchen, dies auszugleichen.

Diesmal ist eine ganze Reihe von Mitstreitern dabei: Rüdiger Wilms setzt die Theaterarbeit mit Straßenkindern fort. Manuela Welzel und Elmar Breuer geben dem Physikunterricht neue Impulse. Sie zeichnen die Lehrprozesse mit den Studentinnen und dann die Umsetzung der Lerneinheiten mit den Straßenkindern auf (der Kameramann ist Luigi Baquero, der an mehreren Filmen für ZDF und ARD beteiligt war und auch einige Teile der Marcela-Dokumentation machte).


Elmar Breuer, Manuela Welzel, Victor Marín


Zwei meiner Doktoranden arbeiten an ihren Forschungen: Anna-Lena Wiederhold erkundet die Religion der Straße und sammelt Material zum Thema Tod- und Jenseitsvorstellungen von Straßenkindern. Manfred Ferdinand kümmert sich um die Konzeptionen von Zeit auf der Straße. Er hat seine Frau mitgebracht, die unterdessen mit einer Studentinnengruppe der Normal über den Einsatz neuer Medien in Lernprozessen mit Straßenkindern arbeitet.


Anna-Lena, erste Begegnung


Zur selben Stunde wie ich, aber mit anderer Fluglinie, sind die drei Kolumbianerinnen Alejandra, Elizabeth und Nataly zurückgeflogen, die mit ihrem Stipendium der Baden-Württemberg-Stiftung 10 Monate lang in Heidelberg waren. Zuletzt und zum Abschluss ihres Druckerlehrgangs bei den Heidelberger Druckmaschinen waren sie nach allen Regeln mittelalterlicher Kunst und Zünfte „gegautscht“ worden. Die Initiation zum Drucker mit dreimaligem Ganzkörper-Untertauchen überlebten sie heftig nach Luft schnappend, aber glücklich (siehe den Bericht darüber auf der Homepage des Projekts).

 

(2) Tiegel: Straßenkinder drucken eigene Texte
Im Juli wurde eine wunderschöne alte und hervorragend überholte Druckmaschine aus der weltberühmten Reihe der Heidelberg-Tiegel des Jahres 1962 auf den Weg nach Kolumbien gebracht – per Schiff. Das gute Stück, gespendet von der Heidelberger Druckmaschinen AG, sollte eigentlich während meines Aufenthaltes dort ankommen und gleich eingeweiht werden. Nun hat sich der Transport verzögert. Straßenkinder können mit der Maschine eigene Texte setzen, sich dabei für den Druckerberuf begeistern, und ihre Lehrer sollen mit dem Gerät alle möglichen Lehr- und Lernmaterialien produzieren.
Alejandra, Elizabeth und Nataly, die während ihres Studienaufenthaltes in der Heidelberger Druckmaschinen AG zu Expertinnen für den Einsatz des Tiegels ausgebildet wurden (über ihre Erfahrungen haben sie selbst berichtet: siehe www.patio13.de unter News), werden nicht nur die Kids der Straße zum Setzen eigener Texte anleiten, sondern gleichzeitig ihre Kenntnisse als Multiplikatoren an andere Studentinnen weitergeben. Die drei Expertinnen bilden die anderen Studenten, die im Oktober nach Heidelberg aufbrechen (Ángela, Catalina, Carolina und Crístian), sowie weitere Studentinnen von Patio13 aus. Was nun ansteht, ist die Planung und Produktion einer Straßenkinderzeitung.

 

(3) Straßenkinderzeitung.
Mit Hilfe der Druckmaschine werden Kinder und Jugendliche der Straße, des Patio Don Bosco und anderer Einrichtungen, mit denen wir seit einem Jahr Kontakt haben, eine eigene Zeitung machen. Sie werden die Themen festlegen, ein Layout entwickeln, Texte schreiben, Zeichnungen anfertigen und schließlich das Produkt eigenhändig herstellen und verteilen.
Beim ersten Durchgang werden unter Anleitung der Druckexpertinnen Alejandra, Elizabeth und Nataly zunächst 10 Studentinnen des Ciclo complementario (langjährige Mitarbeiter von Patio13, unter ihnen auch die Stipendiaten des nächsten Jahres) fünf Gruppen mit je zehn Kindern bilden. Sie werden die erste Nummer der Zeitung (4 Seiten) inhaltlich planen und die Texte und Bilder produzieren. Sie werden sich mit kleinen Geschichten aus ihrem Leben und je einer Zeichnung von sich selbst vorstellen und auch ihr Interesse an dem Hauptthema des Heftes bekunden, für das sie sich entschieden haben.
Jede Gruppe zeichnet für eine Seite der Zeitschrift verantwortlich, die fünfte Gruppe übernimmt die Koordination. Für das Setzen der Texte und den Druck ist genug Zeit eingeräumt, und, sollte es technische Probleme geben, stehen Experten vor Ort zur Hilfe bereit (Mitarbeiter von Druckereien), die im Umgang mit einem Tiegel geübt sind. Der Prozess der Herstellung der Zeitschrift wird von der ersten Planung bis zur Verteilung des fertigen Produkts auf einer großen Tafel dokumentiert, sodass jeder den Platz und die Bedeutung des eigenen Beitrags für das Ganze vor Augen hat.

Im Laufe der Zeit wollen wir die verschiedenen Nummern der Zeitung jeweils mit unterschiedlichen Gruppen der Straße (galladas im Barrio Triste, an der Puente San Juán über den Río Medellín, bei Las Minoristas usw.) machen, die je ihre eigene Charakteristik, ihre Probleme, Nöte und ihre entsprechenden Themen haben. Durch die Verteilung der entstehenden Schriftstücke unter allen Beteiligten kann sich ein Netz von Straßenbewohnern mit einem Bewusstsein ihrer selbst und der Wahrnehmung der Belange ihrer Schicksalsgenossen entwickeln und vertiefen.
Parallel zum Zeitungsprojekt wird an der Escuela Normal ein Seminar angeboten, das den Prozess begleitet, analysiert und reflektiert. Dabei geht es sowohl um theoretische wie praktische Fragestellungen (Alphabetisierung von Straßenbewohnern, Didaktik und Methodik der Arbeit mit ihnen, Schrift und Kultur der Straße, Erschließung neuer Forschungsfragen, Mediengestaltung und Medienkritik usw.). Eine maßgebliche Rolle in den Seminaren, deren erster Zyklus zunächst auf vier Semester geplant ist, werden die Studentinnen spielen, die ein Studienjahr in Deutschland verbrachten und dort einen Ausbildungskurs bei den Heidelberger Druckmaschinen absolvierten.

(4) Kompetenzzentrum für Straßenkinderpädagogik an der PH Heidelberg: „Patio13-Nachrichten“
Während meiner Abwesenheit bricht die Arbeit in Heidelberg keineswegs ab. Seit Frühjahr 2006 hat das Rektorat der Pädagogischen Hochschule Heidelberg das Patio13-Kompetenzzentrum für Straßenkinderpädagogik eingerichtet. Geschäftsführerin ist Simone Wessely, ausgewiesen in Presse-, Öffentlichkeitsarbeit und Marketing, in Bereichen also, die für das Projekt Patio13 äußerst wichtig sind.

Gegenwärtig bereitet Simone Wessely zusammen mit der Büchergilde Gutenberg für den 21. Oktober 2006 ein Straßenfest in Heidelberg vor, bei dem unser neues Buch „Das Blutende Herz. Religion der Straße” vorgestellt wird.

Zum fünfjährigen Jubiläum des Projekts hat Simone Wessely überdies eine Zeitschrift kreiert - die „Patio13-Nachrichten / Novedades de Patio13“ -, sie hat das Lay out entworfen, die Texte aus Kolumbien und Deutschland redigiert und selbst welche geschrieben. Der Newsletter erscheint demnächst sowohl deutsch wie spanisch in einer gedruckten und einer digitalen Version. Die deutsche Ausgabe ist ab Anfang September zu beziehen und kann über e-mail oder über die Homepage (www.patio13.de, News) bestellt werden.

Zu den Aufgaben von Simone Wessely gehört auch die weitere Begleitung des Akkreditierungsprozesses des neuen Masterstudiengangs „Pädagogik für Kinder und Jugendliche der Straße“, der Ende nächsten Jahres beginnen soll. Die Papiere werden derzeit vom Prorektor der PH und von der Akkreditierungsbehörde einer ersten Prüfung unterzogen.

Zum Kompetenzzentrum gehört neben den Mitarbeitern der Kolumbiengruppe auch Manfred Ferdinand, der, vom Pfarramt vorübergehend beurlaubt, ein Diakoniewissenschaftliches Zusatzstudium absolviert hat. Er kümmert sich im Projekt vor allem um die Entwicklung und Förderung der Forschung sowie um Innovationen in der Lehre. Im August und September ist er erstmals vor Ort in Medellín, um sein eigenes Forschungsfeld zu erkunden.

Kürzlich hat das Kompetenzzentrum Straßenkinderpädagogik zwei schöne große Räume im Altbau der Pädagogischen Hochschule bezogen, die in unmittelbarer Nähe zum Akademischen Auslandsamt liegen, mit dem es ja wesentliche Anliegen teilt.

(5) Maestria-Studiengang in Bogotá
Nach einem Gespräch, das Sor Sara und ich mit der Dekanin der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät, Miryam Ochoa, sowie mit Josefa Buitrago und Ricarda Monroy von der Universität Externado in Bogotá führten, steht nun fest, dass der Masterstudiengang (Maestria) Straßenkinderpädagogik dort im nächsten Frühjahr eingeführt wird – Studienbeginn ist der 22.02.2007. Ende November dieses Jahres erfolgt die Ausschreibung landesweit. Die Bewerber müssen sich persönlich vorstellen. Voraussetzung für die Zulassung ist ein abgeschlossenes Studium sowie eigene Praxiserfahrung mit Straßenkindern.

Vonseiten der Escuela Normal und der Salesianerschwestern kommen mindestens 25 Studierende, weitere von der Universidad Externado. Die Studiengebühren belaufen sich pro Semester auf 2,5 bis 3 Millionen Pesos (ca. 1000 €). Großzügige Stipendien werden von den staatlichen Einrichtungen Bienestar Familiar und von ICETEX (Institution für Vergabe von Stipendien in Kolumbien) kommen. Deutsche Studenten aus Heidelberg und Freiburg sind aufgrund des abgeschlossenen Kooperationsvertrags (convenio) freigestellt. Sie können, entsprechend dem Masterstudiengang, den wir dort einführen, einen Teil der Credit Points in Kolumbien erwerben.

Die Universidad Externado ist an der Beteiligung deutscher Dozenten interessiert. Wir haben vereinbart, dass mindestens zwei, vielleicht auch drei oder vier, Professoren aus Heidelberg und Freiburg im August (oder September) nächsten Jahres ein Seminar für die Maestria in Bogotá sowie anschließend ein Seminar im Rahmen eines Diplomado in Medellín anbieten. Flug und Aufenthalt werden von der kolumbianischen Seite (ICETEX) finanziert.

(6) Marcela
Unser Sorgenkind Marcela, die im April dem Tod näher als dem Leben schien, und in den letzten Monaten ganz verschwunden war, stöberte ich schon am ersten Tag meines Aufenthaltes in Medellín auf. An der kilometerlangen Grünfläche entlang der Kloake des Río Medellín, wo sich die indigentes aufhalten, die aus anderen Teilen der Stadt vertrieben wurden, hat man im Norden in der Nähe des Marktes Las Minoristas (gegenüber dem cambuche, das wir seit Jahren aufsuchen) und im Süden nahe dem Barrio Triste kürzlich je ein großes gelbes Zelt aufgestellt. Dort können die Straßenbewohner duschen und ihre Kleider waschen. Im Inneren liegt ein riesiger Gummisack, gefüllt mit Wasser. Daneben gibt es fünf oder sechs Duschkabinen, bestehend aus von oben herabhängenden Gummimatten. Außerdem ist ein kleines Becken fürs Kleiderwaschen vorhanden. Eine segensreiche Einrichtung, so einfach, praktisch und wirkungsvoll, dass man gerne selbst darauf gekommen wäre.

Der junge Mann, der die Einrichtung beaufsichtigt und mit seinem Mundschutz wie ein Medizinstudent im Praktikum aussieht, erklärt stolz, das Schmutzwasser werde, bevor es abfließt, zuerst an Ort und Stelle gereinigt. Tatsächlich gelangt es dann, sauber und keimfrei, in die stinkende Kloake des Flusses, der alle Gifte und Krankheiten der Welt zu enthalten scheint. In der Nähe des Zeltes sind Blechkabinen aufgestellt, die die Form von Klosetts an Baustellen haben. Aber man hat nicht den Eindruck, dass die Böschungen zum Fluss hinunter sauberer geworden sind, es stinkt immer noch erbärmlich.

Der Junge am Zelt führt Buch über die Klienten seiner Einrichtung. So frage ich ihn, ob er nicht eine junge Frau namens Marcela auf seiner Liste führe. Tatsächlich kennt er sie und weiß auch, wo sie sich aufhält.

Sie kommt gerannt und freut sich: äußerlich heruntergekommen, schmutzig und in zerlumpten Kleidern, aber wesentlich stabiler als im Frühjahr. Während ich mich freue, dass sie noch lebt, erzählt sie von drei Verehrern, alle wollen sie heiraten. In Wirklichkeit hat sie keinerlei Perspektive für eine Veränderung ihrer Situation.

Tage später erscheint sie wieder sterbenskrank, abgetaucht im Drogenrausch.

(7) Anfangssituationen auf der Straße: Theater und Straßenkunst
Seit Projektbeginn gehen wir mit dem Problem um, wie man die erste Kontaktaufnahme mit Straßenbewohnern gestalten und verbessern kann. Nachdem wir zunächst und erfolgreich mit Einwegkameras experimentierten (die Kids konnten sich mit ihren eigenen Aufnahmen vorstellen, sich selbst ausdrücken) und mit dem Gespräch über die Narben des Körpers die Beziehung zu ihnen aufbauten, versuchen wir es jetzt mit Hilfe von improvisiertem Straßentheater und mit künstlerischen Mitteln des Malens und Zeichnens.

Im Barrio Triste traf ich die kleine Gruppen eines Theaters, Studenten der Universität von Antioquia, die mit einer Trommel, wenigen Requisiten und Gesichtsfarben ausgestattet, sich unter die Straßenbewohner mischten, Alltagssituationen spielten und auf diese Weise die Zuschauer leicht ins Spiel hinein zogen. Sie schminkten sie, so dass die Leute von der Straße von denen des Theaters bald nicht mehr zu unterscheiden waren. Tatsächlich ließ sich ein Unterschied auch nicht an der Art des Spiels erkennen – Straßenkinder sind in der Regel ausgesprochen kreativ.

Der Vorteil dieser Art der Kommunikation liegt darin, dass nicht alles von der Fähigkeit und Bereitschaft abhängt, sich sprachlich zu äußern und mehr oder weniger logisch zu denken. Man geht spontaner miteinander um und hat Spaß am Spiel. Besonders beeindruckend war es zu sehen, mit welcher Hingabe sich die Straßenkinder maskieren, berühren, beim Anmalen übers Gesicht streichen ließen, während sie sich in einen Clown, eine Tänzerin oder einen Zauberer verwandelten.

Die jungen Schauspieler des „Grupo Cultural Teatro Abierto“, die in einem kleinen Saal im Zentrum Medellíns („Exfanfaria“ neben dem Teatro Pablo Tobón Uribe) üben, waren auf meine Anfrage hin gleich bereit, mit unseren Studenten zusammen zu arbeiten und ihnen einen taller (Werkstattseminar) auf der Straße anzubieten. Das bringt eine entscheidende methodische Bereicherung für uns, zumal (und wie gesagt) für die Erstbegegnung mit Straßenkindern.

Einen Tag später bekamen wir einen Anruf aus der Künstlerkolonie „Taller 7“ im Zentrum der Stadt, die sich sozial engagiert und mit Straßenkindern arbeiten wollte; in entsprechenden Institutionen sind sie bisher jedoch nicht zum Zug gekommen. Auch mit ihnen vereinbarten wir einen taller über Zeichnen, Malen und künstlerisches Gestalten auf der Straße, an dem die Studentinnen von der Normal teilnehmen.

 

 

(8) Veröffentlichungen
Im September erscheint unser neues Buch „Das Blutende Herz. Religion der Straße“ bei der Edition Büchergilde sowie bei der Büchergilde Gutenberg (Preis: 19, 80 € für Mitglieder; 24.80 € im Buchhandel). Es setzt die Thematik des ersten Bandes „Narben auf meiner Haut“ (Frankfurt 2003) fort und ist auch in demselben Stil gehalten (zahlreiche Fotos).

Der Band über die Religion der Straße ist die erste Frucht eines von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg geförderten Forschungsprojekts, dem weitere Publikationen und Promotionen (Anna-Lena Wiederhold, Manfred Ferdinand, Adriana Romero) folgen werden. Die spanische Übersetzung des Buches erscheint im nächsten Jahr.

Das Buch „Narben auf meiner Haut“ war, in spanischer Übersetzung, auch in Kolumbien sehr erfolgreich. Es sind zahlreiche Rezensionen erschienen, und im September dieses Jahres wird es eigens in einer Radiosendung vorgestellt, besprochen und diskutiert, in die zahlreiche Interviews mit Experten des Landes eingefügt werden, die das Buch gelesen haben und das Projekt kennen.

Der Jugendroman „Treffpunkt Plaza Bolivar“, der vergriffen ist, wird in einer neuen, sprachlich wesentlich verbesserten, spanischen Ausgabe erscheinen. Sor Sara hat die Finanzierung dafür von der Kolumbianischen Landesbank bekommen.

Was mich als „Doktorvater“ besonders freut: Die Promotionsarbeit von Sor Sara über das Projekt Paqtio13 und die Bedeutung der Straßenkinderpädagogik für die Lehrerausbildung ist abgeschlossen. Nun folgt irgendwann das Rigorosum.

(9) Straßenschwangerschaften: Straßenkinder gebären Straßenkinder
Alle schwangeren Mädchen auf der Straße haben panische Angst, nämlich dass man ihnen ihre Kinder, wenn sie erst geboren sind, wegnimmt. Sor Sara und ich haben angefangen, ein für uns neues, ziemlich düsteres Kapitel zu erschließen, über das bisher kaum geforscht wurde und wenig bekannt ist. Jedenfalls gibt es darüber so gut wie keine Literatur: Was geschieht mit den Kindern, die Straßenkinder gebären? So weit uns bekannt, verschwinden die Neugeborenen meist sehr schnell und auf – jedenfalls für die Mütter - dunklen Wegen.

Marcela hat zwei Kinder; der Junge - inzwischen dürfte er neun Jahre alt sein - ist bei Marcelas Mutter untergebracht; das Mädchen ist irgendwann verschwunden, was Marcela zutiefst beunruhigt. Aber auch zu ihrem Sohn besteht keinerlei Kontakt mehr, obwohl sie, was die räumliche Entfernung betrifft, mit dem Bus in einer halben Stunde bei ihm sein könnte.

Doris, die wir seit fünf Jahren kennen, hat kürzlich ein Kind bekommen: Rechtzeitig vor der Geburt verließ sie das cambuche unter der Brücke (wo früher auch Marcela lebte), ging zu ihrer Mutter zurück, die in einer der Comunas wohnt, und von dort zur Niederkunft in die Klinik. Ihr konnte das Kind nicht abgenommen werden, weil Doris ja eine feste Wohnung vorweisen konnte – bei der Mutter. Kurz darauf ging sie wieder auf die Straße und ließ das Kleine zurück. Wenn sie etwas Geld zusammen gebracht hat (sie richtet sich schön her vor der Suche nach Freiern, und entsprechend kann sie mehr verlangen), geht sie manchmal am Wochenende nach Hause und liefert einen Beitrag zum Unterhalt des Kindes ab.

Das Kind von Laura, einem etwa 20jährigen schwarzen Mädchen aus Cali, die am Río Medellín haust, soll im Februar kommen. Sie hat große Angst, man könne ihr das Kind gleich nach der Geburt wegnehmen. Hier am Fluss, sagt sie, werden Kinder an Ausländer verkauft, für 50.000 Pesos seien sie zu haben. „Neulich hat eine von uns sogar 200.000 Pesos bekommen.“ (Ich glaube diese Geschichten nicht, halte sie eher für Angstträume.) Ihr novio heißt Heibert (so werden die Namen in Kolumbien verballhornt), ein Junge vom Land, dem man nicht zutraut, dass er sich in dieser aggressiven Stadt zurecht findet.

Auf der Avenida Bolívar treffen wir drei Geschwister: 1. Lina, 13 Jahre (sie sieht aus wie eine Siebenjährige, dünn und schmächtig). 2. Leydi, 14 Jahre: Sie hat ein Kind von einem Monat. 3. Djurany, 16 Jahre alt, schwanger im siebten Monat. Die drei leben in einem inquilinato, wo 5 bis zehn Personen in einem einzigen Zimmer hausen, Tagesmiete pro Person etwa 4.000 Pesos. Auf diese Weise kommt eine Summe zusammen, mit der man einen Palast mieten könnte.

Die drei Mädchen leben mit der Großmutter zusammen, die das Kind von Leydi über Tag hütet. Oma und Enkelinnen scheinen ihren Lebensunterhalt als Prostituierte zu verdienen. Wahrscheinlich ist Leydis „Ehemann“ (so nennt sie ihn) ihr Zuhälter. In diesem Milieu aufgewachsen, weiß sie vielleicht nicht, dass Zuhälter und Ehemann nicht unbedingt dasselbe ist.

Was die kleine Lina betrifft, so ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch sie schwanger wird. Djurany hat nur eine einzige Sorge: Wie kann sie verhindern, dass man ihr das Kind wegnimmt, wenn es erst geboren ist.


Gallada im Barrio Triste

Die Seitenstraßen in der Gegend, wo die drei wohnen, sind voller Prostituierter, um deren Beine herum kleine Kinder spielen. Irgendwie haben Mütter und Kinder es geschafft, nicht auseinander gerissen zu werden. Mangel an Nachwuchs in ihrem Gewerbe wird es hier nicht geben.

Noch eine Geschichte
Liliana, 17 Jahre alt, klein und dünn wie ein neun- oder zehnjähriges Mädchen und andauernd an der sacol-Flasche schnüffelnd, war im letzten Jahr schwanger; im April dieses Jahres, als ich sie wieder sah, war das Kind gerade geboren, behindert; kein Wunder, bei der drogenabhängigen, unterernährten und körperlich retardierten Mutter. Es wurde zunächst im Krankenhaus in einem Brutkasten versorgt. Jetzt, im August 2006, ist es in einer Einrichtung für Waisenkinder untergebracht und wird, falls sich aus dem Umfeld Lilianas niemand findet, der das Kind aufnimmt (und wer sollte das schon sein?), in irgendeiner Einrichtung verschwinden.

Liliana riss zum ersten Mal mit sechs Jahren von zu Hause aus. Sie schloss sich den Jungen und Mädchen an, die vor dem Eingang des Patio Don Bosco herumlungerten und fortwährend an ihren sacol-Flaschen schnüffelten. Sie machte es ihnen nach. Die Polizei griff sie auf, brachte sie bei Nonnen unten, dann brachten sie sie wieder zu ihrer Mutter zurück. Mit zwölf Jahren wurde sie von ihrem Stiefvater vergewaltigt. Die Mutter, der sie es erzählte, weigerte sich, diese „Phantasiegeschichten“ anzuhören. Sie sah weg, während die Sache ihren Lauf nahm. Liliana wurde schwanger, es kam zu einer Frühgeburt. Später wurde sie noch einmal schwanger, wieder eine Frühgeburt. Sie wandte sich an die milizianos, die in den Barrios, weitab von Staat und Polizei das Recht in die eigene Hand genommen haben, und forderte sie auf, ihren Stiefvater umzubringen. Als nichts geschah, schüttete sie ihm bei der seiner nächsten Attacke heiße Milch ins Gesicht und drang mit dem Messer auf ihn ein.

Der Vater ihres Kindes, sagt sie, sei ein „Hurensohn“, er hat vier weitere Kinder von unterschiedlichen Frauen, für keines sorgt er, und er hat sie sofort verlassen, als er merkte, dass sie schwanger ist. Für ihr Kind, sagt Liliana, würde sie alles erdenklich tun, sie würde sich ändern und sogar die Drogen aufgeben, wenn sie es nur bei sich haben, liebkosen und versorgen könnte.