„Ich war überrascht, dass sich die Deutschen für
das Thema Straßenkinder interessieren”
Sandra Milena Vanegas Vidal:
Erfahrungsbericht über ihren Studienaufenthalt in Heidelberg
von Oktober 2004 bis August 2005
Ich bin eine kolumbianische Studentin und habe im Wintersemester 2004-2005 und im Sommersemester 2005 als Stipendiatin des Baden-Württemberg-Stipendiums an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg studiert.
In diesem Bericht möchte ich von meinen Erfahrungen und meinem Aufenthalt in Deutschland erzählen. Außerdem möchte ich Personen, die sich für das Projekt „Patio 13 - Eine Schule für Straßenkinder“ interessieren, damit die Möglichkeit geben, sich zu informieren.
Zuerst will ich erklären, wie und warum ich das Baden-Württemberg-Stipendium bekommen habe.
In Kolumbien habe ich an der Pädagogischen Hochschule „Escuela Normal Superior María Auxiliadora“ (ENSMA) studiert. Dort nehme ich seit fast vier Jahren an dem Projekt „Patio 13“ teil, zu dem Studenten und Dozenten von der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg und der ENSMA in Copacabana-Kolumbien gehören.
Als ich an der ENSMA studierte, habe ich gleichzeitig in dem Projekt Patio 13 mit Straßenkindern gearbeitet. Sowohl ich als auch andere Studenten besuchten regelmäßig ein Heim, in das die Straßenkinder gehen. Dieses Heim heißt „Patio Ciudad Don Bosco“. Dort können die Straßenkinder essen und schlafen. Aber sie können auch von den Praktikantinnen der ENSMA in verschiedenen Fächern unterrichtet werden.
Damals habe ich mehrere Studenten und Dozenten von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg kennen gelernt. Alle sind nach Kolumbien gereist, weil sie das Projekt unterstützen wollten. Sie haben eine interessante Arbeit mit den Straßenkindern gemacht, und die meisten von ihnen hatten viel Kontakt mit den Schülern von der ENSMA, besonders mit denjenigen, die zu dem Projekt gehören.
Ich habe mich dafür interessiert, ein Stipendium zu bekommen. Alles was ich über Straßenkinder und mit Straßenkindern gelernt habe, wollte ich in Deutschland einbringen. Außerdem wollte ich eine neue Kultur kennen lernen, die Sprache lernen und besonders meine Kenntnisse in Pädagogik erweitern, damit ich später das Projekt weiter hilfreich unterstützen kann.
Kurze Zeit später bin ich zum „Kulturellen Institut Alexander von Humboldt“ in Medellín gegangen. Dort habe ich einen Kurs für „Deutsch als Fremdsprache“ besucht.
Fast zwei Jahre später haben sowohl ich als auch drei Studentinnen von der ENSMA das Baden-Württemberg-Stipendium bekommen. Das war für uns eine große Freude. Wir wussten, dass das Baden-Württemberg-Stipendium den internationalen Austausch von hoch qualifizierten deutschen und ausländischen Studenten fördert.
Als ich in Deutschland angekommen bin, bekam ich einen besonderen Eindruck von den Leuten, der Kultur, der Sprache, der Landschaft, dem Wetter… Alles war für mich anders als in Kolumbien. Ich war in einer unbekannten aber wunderbaren Stadt: Heidelberg. Hier habe ich mich mit einigen Studenten und Dozenten getroffen, die ich in Kolumbien kennen gelernt hatte. Alle waren sehr zufrieden, weil wir nach Heidelberg gekommen sind. Sie und unsere Paten von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg haben uns in den ersten Tagen sehr geholfen. Deswegen war es für mich nicht so schwer, mich an das neue Leben in Deutschland anzupassen.
Nur ein paar Wochen nach unserer Ankunft sollten wir an einem wichtigen Treffen vom Projekt „Patio 13“ teilnehmen. An diesem Tag sind viele Studenten, Dozenten und andere Personen gekommen, die mit dem Projekt etwas zu tun haben. Wir sollten eine kurze Vorstellung von uns machen und außerdem ein bisschen von unserer Arbeit mit Straßenkindern erzählen. Das war für mich eine richtige Herausforderung, weil zu dieser Zeit meine sprachlichen Kenntnisse gering waren. Wir waren sehr nervös, weil wir an diesem Tag das erste Mal vor einem großen deutschen Publikum gesprochen haben. Aber glücklicherweise wurde es ein Erfolg. Zu unserer Überraschung haben die Teilnehmer sich sehr für das Projekt interessiert.
Wenige Tage später habe ich die Seminare und Vorlesungen an der Pädagogischen Hochschule besucht. Dabei wurde ich immer von HEISS (Heidelberger Erasmus Initiative von Studierenden für Studierende) und AAA (Akademischen Auslands Amt) unterstützt.
Ich habe andere ausländische Studierende kennen gelernt. Viele von ihnen hatten auch das Baden-Württemberg-Stipendium. Dies war eine schöne Erfahrung. Es ist sehr interessant, Leute aus anderen Ländern kennen zu lernen, die eine andere Sprache und Kultur haben. Ich bin der Meinung, dass man viele positive Aspekte über andere Kulturen kennen kann, aber nur, wenn man keine Vorurteile hat. Jeder von uns wollte die positiven Seiten unseres Landes zeigen. Deswegen glaube ich, dass die Stimmung mit den ausländischen Studierenden immer sehr angenehm war. Mit ihnen habe ich an einigen Seminaren teilgenommen: Deutsch Niveau I und Niveau II und Landeskunde im Wintersemester und im Sommersemester. Das war für mich eine tolle Möglichkeit, neue Freundschaften zu schließen. Wir haben zusammen an verschiedenen Aktivitäten teilgenommen, die die HEISS gefördert hat. Zum Beispiel sind wir nach Freiburg und Karlsruhe gefahren.
Über das Seminar Landeskunde sind wir auch nach Straßburg gefahren. Dort haben wir das Europäische Parlament besucht. Dieser Besuch hat mir sehr gut gefallen. Als ausländische Studierende haben wir es sehr interessant gefunden, etwas über das politische System der Europäischen Union zu lernen.
Ich habe aber auch an anderen Seminaren mit deutschen Studenten teilgenommen.
Im Wintersemester: Bildung für Straßenkinder, Mönchtum in Gegenwart und Geschichte, und Naturphänomene zum Thema Elektrik und Magnetismus. Für das Sommersemester: Einführung in die Beobachtung, Planung und Evaluation des Unterrichts; Bildung und Erziehung in interkulturellen Perspektiven, Brennpunkte der Diakoniegeschichte, Interesse und Motivation, Pädagogische Hilfe für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche, Didaktik und Methodik des Sachrechnens, Didaktik und Methodik des Bruchrechnens.
Durch diese Seminare hatte ich mehr Kontakt mit deutschen Studenten. Das war sehr gut, um meine sprachlichen, pädagogischen, didaktischen und mathematischen Erkenntnisse zu verbessern. Ich habe viele Referate und Hausarbeiten vorbereitet und vorgestellt. Dabei habe ich immer die Unterstützung von deutschen Studenten bekommen.
Es gab ein Seminar im Wintersemester, das mir sehr gut gefallen hat: „Bildung für Straßenkinder“. Als ich zum ersten Mal dieses Seminar besucht habe, habe ich gemerkt, dass die Gruppe sehr groß war. Mehr als hundert Studenten haben sich für das Thema „Straßenkinder“ interessiert. Davor hatte ich gedacht, dass nicht so viele junge Leute aus Ländern wie Deutschland sich für die Probleme von armen Ländern interessieren. Aber mit dem Seminar wusste ich, dass meine Vermutung falsch war.
In diesem Seminar haben wir die Straßenkinder nicht aus karitativer, sondern aus pädagogischer Perspektive gesehen. Ich habe es sehr interessant gefunden, dass wir etwas über das Thema Straßenkinder – nicht nur in Lateinamerika, sondern auch in asiatischen, afrikanischen und auch europäischen Ländern - gelernt haben. Für mich war total neu, dass es in Deutschland auch Straßenkinder gibt.
Dabei konnten wir die Situation für Straßenkinder in Kolumbien und für Straßenkinder in Deutschland miteinander vergleichen. Darüber hinaus haben wir gelernt, dass es verschiedene Gründe gibt, um ein Straßenkind zu werden. Zum Beispiel sind in Kolumbien die Armut und die Gewalt die häufigsten Gründe. In Deutschland werden die Kinder Straßenkinder, weil sie familiäre Konflikte haben und auf der Straße Freiheit suchen.
In diesem Seminar war unsere Teilnahme sehr wichtig. Wir konnten unsere Erfahrung im Projekt „Patio 13“ mit den deutschen Studenten teilen. Wir haben erklärt, wie wir mit den Straßenkindern in Medellín arbeiten. Auch haben wir gesagt, dass es unser Ziel ist, eine neue Pädagogik für und mit Straßenkindern zu entwickeln. Das war für die deutschen Studenten sehr interessant.
Im Wintersemester habe ich kein Seminar über Straßenkinder besucht. Dafür nahm ich an einem interessanten Seminar über Diakoniegeschichte teilgenommen, in dem wir einen Überblick über die diakonische Arbeit der Kirchen bekamen. Gleichzeitig konnten wir auch diese Arbeit mit den Institutionen für Straßenkindern in Verbindung bringen.
Im Sommersemester haben wir auch ein Seminar über Pädagogik und Didaktik besucht: „Einführung in die Beobachtung, Planung und Evaluation des Unterrichts“. Dafür sollten wir in kleinen Gruppen einen Unterricht vorbereiten. Diese Vorbereitung haben wir in einem Wochenendseminar gemacht. Das war für mich eine interessante Erfahrung, weil ich einige Ideen für den Unterricht einbringen konnte, die ich in den Praktika an der ENSMA und mit Straßenkindern bekommen hatte.
Als wir selbst Unterricht an einer erteilen konnten, habe ich mich sehr gut gefühlt. Die Kinder und die Lehrerin waren sehr nett. Sie waren sehr zufrieden mit unserem Besuch, und am Ende des Unterrichts wollten sie nicht, dass wir gehen.
Während dieser Zeit habe ich gelernt, dass man viel machen und richtigen Kontakt mit anderen Menschen haben kann, selbst wenn man nicht perfekt deutsch spricht. Zum Beispiel habe ich mich vor den Kindern dieser Schule als ihre richtige Lehrerin gefühlt. Natürlich wussten die Kinder, dass ich Ausländerin bin, und wahrscheinlich habe ich einige Fehler beim Sprechen gemacht. Aber sie haben alles verstanden, und ich würde sagen, dass sie sich an diesem Tag als meine Schüler gefühlt haben.
Dasselbe habe ich gemerkt, als ich am „Erlebnistag“ teilgenommen habe. Ich habe ein Seminar über Naturphänomene zum Thema „Balance und Bewegung“ besucht. Durch dieses Seminar bereiteten wir eine Station vor, um sie den Kindern und ihren Eltern zu zeigen. Das war im Rahmen der Verwirklichung eines Erlebnistages mit der Pädagogischen Hochschule und dem interaktiven Museum ExploHeidelberg. Die Kinder konnten mit uns ihre Lieblingstiere basteln. Gleichzeitig konnten sie und die Eltern etwas über „Balance und Bewegung“ lernen. Für mich war diese Erfahrung sehr schön. Die Kinder waren sehr zufrieden und konnten ihre Tiere mit nach Hause mitnehmen. Durch diesen Erlebnistag haben wir viele Ideen bekommen, und wahrscheinlich werden wir mit den Straßenkindern in Kolumbien ähnliche Aktivitäten fördern.
In dem interaktiven Museum ExploHeidelberg habe ich für sieben Monate gearbeitet. Da hatte ich auch viele Kontakte mit Kindern und Schülern. Unter dem Motto „Wahrnehmen mit Augen und Ohren“ habe ich selber viel über Physik gelernt. Die Arbeit im ExploHeidelberg war für mich eine tolle Möglichkeit, um mein Deutsch zu verbessern, Physik zu lernen, neue Leute kennen zu lernen, Kontakt mit den Kindern zu haben und Freunde im Exploteam zu finden.
Ein weiterer Aspekt, der mir sehr gut gefallen hat, war die Möglichkeit, andere Städte kennen zu lernen. Zum Beispiel war ich in Paris und in Straßburg; ich bin auch nach Österreich und nach Luxemburg gefahren. In Deutschland habe ich Städte wie Berlin, Freiburg, Stuttgart, Mainz, Frankfurt am Main, Tübingen, Würzburg, Worms, Konstanz, Speyer, Karlsruhe, Mannheim kennen gelernt, natürlich war die schönste aller Städte Heidelberg. Außerdem war ich noch im Schwarzwald. An allen diesen Orten habe ich die wichtigsten Sehenswürdigkeiten gesehen, die ein bedeutender Teil der europäischen Geschichte sind.
Es gibt eine zweite deutsche Stadt, die mir ganz besonders gefallen hat: Berlin. Dort ist es sehr interessant, den Einfluss des Krieges und der Teilung der Stadt in DDR und BRD in jeder Ecke wahrzunehmen. Mit eigenen Augen sah ich, was ich zuvor im Seminar Landeskunde gelernt hatte.
Heidelberg gefällt mir, weil es so schön ist. Hier gibt es eine wunderbare Kombination zwischen dem Modernen und dem Alten. Das Schloss, die Altstadt mit ihren alten Gebäuden, die Hauptstraße, die Studenten und die Leute im Allgemein machen aus Heidelberg eine unvergessliche Stadt.
Ich werde nach Kolumbien viele Erinnerungen mitnehmen, sowohl von den Städten und ihren Sehenswürdigkeiten als auch von den Leuten, die mich in dieser Zeit begleitet haben. Dozenten wie Herr Weber und seine Frau, Frau Welzel und ihr Mann, Frau Schön, Herr Scheler und Herr Willms waren immer für uns da und haben uns sehr gerne geholfen. Deswegen will ich mich bei ihnen für ihre Begleitung bedanken. Auch möchte ich mich bei Isabell, Katherine und Diana bedanken. Sie sind die anderen Kolumbianerinnen, die auch das Baden-Württemberg-Stipendium bekommen hatten, mit ihnen habe ich eine tiefe Freundschaft geschlossen.
Abschließend möchte ich mich besonders für das Baden-Württemberg-Stipendium bedanken, weil ohne diese Hilfe diese Erfahrungen unmöglich gewesen wären.
Heidelberg, den 8. August 2005
Sandra Milena Vanegas Vidal
Email: mile_vanegas21@yahoo.es