Hintergrundinformationen / Erfahrungsberichte / M. Ferdinand 2007b
Religion im Koordinatenkreuz
Erfahrungsbericht zum 3. Forschungsaufenthalt von Manfred Ferdinand in Copacabana und
Medellín (27.07.-24.09.2007)
Schon das dritte Mal in Kolumbien innerhalb eines Jahres; nun sind es sechs Monate gewesen – und es ist schon fast normal geworden, dort zu leben.
Dieses Gefühl habe ich auch bei meiner Arbeit an der Escuela Normal Superior Maria Auxiliadora (ENSMA) in Copacabana und „auf der Straße“ in Medellín gehabt: Praktisch ohne weitere Absprachen standen Unterkunft, Seminargruppe und mein kleines „Büro“ für die geplanten acht Wochen zur Verfügung, allein die Räumlichkeiten für das Seminar mußten noch gefunden werden, und schon konnte es losgehen; „auf der Straße“, bei „unseren“ Jugendlichen im Barrio Triste, sofort die namentliche Begrüßung und die Einladung, sich zu setzen und mitzumachen – es war nicht die einzige Situation, in der ich mich fühlte, als wäre ich einfach Teil des Lebens dieser Kinder und Jugendlichen geworden, und ebenso Teil der ENSMA: quasi institutionalisiert, ein Stück Kontinuität in einem Projekt mit sonst doch ständig wechselnden Gesichtern.
Auch dieser Forschungsaufenthalt hatte wieder zwei Schwerpunkte: zum einen die Vertiefung der Arbeit mit Straßenkindern über deren Zeiterfahrungen, Zeitstrukturen und Zeitvorstellungen, und zum anderen die Fortsetzung der Arbeit („Phase 3“) mit der nun 21-köpfigen Projektgruppe der Schülerinnen des grado noveno (9. Klasse), die damit in das zweite Jahr ihrer Einarbeitung in Forschungs- und Arbeitsmethoden im Lebensfeld der Straße eingetreten sind.
Am Anfang der Arbeit mit den Schülerinnen des grado noveno der ENSMA standen zwei Workshops mit meiner Frau: ein Workshop nach der Tell-it!-Methode des Fraunhofer Institutes zur Erarbeitung des Gruppenwissens nach einem Jahr Erfahrung im Projekt Patio13, sowie eine Zukunftswerkstatt zur Neuausrichtung der weiteren Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen der Straße.
Das daran anschließende Seminar hatte diesmal die Form der Erarbeitung, Umsetzung und Evaluation eigener Forschungs- und Bildungsprojekte zum Thema „autoestima – Selbstwertschätzung“, das sich aus der Zukunftswerkstatt als zentraler Begriff und zentrales Thema in der Arbeit mit Straßenkindern herauskristallisiert hatte, in kleinen Arbeitsgruppen.
Dabei hatten wir, durch die großzügige und geduldige Zurverfügungstellung des Obergeschosses der neuen Bibliothek durch die Bibliothekarin Oliva Cardona Pérez, die wunderbare Gelegenheit, uns mit unserem 8-wöchigen Seminar in der Bibliothek in den neuen und sehr schönen, vielfältig nutzbaren Räumlichkeiten auszubreiten.
Die Erfahrungen mit der Kombination aus Reflexion und Aktion erwiesen sich als sehr interessant: im offensichtlich ungewohnten Rahmen von kreativen, erfahrungsbetonten und prozessorientierten Seminarmethoden (z.B. der Entwicklung einer timeline aus Pflanzenteilen des Schulareals, in den Augen der Schülerinnen zunächst nichts als „Müll“) konnten die Schülerinnen zum einen zu ausführlichen und qualifizierten Stellungnahmen als Experten ihrer Erfahrungen in der Projektarbeit motiviert werden; zum anderen konnte aber auch sichtbar werden, welche Wahrnehmungshürde vermeintliches Wissen und Vorwissen darstellen kann. Die Aufarbeitung der bisherigen Arbeit verband sich konstruktiv mit Ansätzen veränderter Selbstwahrnehmung als Individuum wie als Gruppe; am Ende stand denn auch als zentrale Fragestellung und Ziel für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen der Straße die nach der Bedeutung der autoestima – der Selbstwertschätzung - für die Entwicklung und Realisierung von Lebenszielen.
Die Konkretion dieses Themas in der praktischen Erarbeitung von kleinen Projekten für die Straße bedeutete dann aber noch einen enormen Akt des Umdenkens: angefüllt und auf der Basis eines gerade absolvierten Ethikseminars über das Thema vollkommen sicher, was es mit der autoestima auf sich habe, landete man bei der Auseinandersetzung mit dem dort positivistisch formulierten Verständnis schnell in Sackgassen der Irrealitäten. Quantitative Vorstellungen von hohem (als Ideal und vermeintlichem pädagogischen Ziel) und niedrigem (als den Straßenbewohnern durchweg unterstellter Ausgangspunkt) Selbstwertgefühl mußten qualitativen Fragestellungen Platz machen, um den realen Bedingungen eines angemessenen Selbstwertgefühls und einer Operationalisierbarkeit zugänglich zu werden. Mitten in der Auseinandersetzung mit der Aufgabe der didaktischen Umsetzung stellte sich plötzlich die Frage: „Was glaubst Du denn, was autoestima und das Ziel unserer Arbeit mit den jungen Straßenbewohnern ist?“, und es wurde unübersehbar, welche Bedeutung die weltanschaulich-religiöse Position für Verständnis und Zielbestimmung pädagogischer Arbeit hat. Wir sind – zumindest sachlich - beim Thema Religion angekommen.
„Auf der Straße“, d.h. vor allem bei „unserer“ Gruppe von Straßenbewohnern im Barrio Triste und bei den Kindern und Jugendlichen im Bereich der Plaza Rojas Pinilla, die Prof. Weber mit Sor Sara im Frühjahr „entdeckt“ hatte, waren wiederum neue Entwicklungen festzustellen.
Der enorme Modernisierungsschub, der in Medellín vor allem in der nun schon gut 4 Jahre andauernden „Gewaltpause“ in Programmen wie „Medellín la más educada“, dem Ausbau der Verkehrsinfrastruktur mit Erweiterung von metro und metro cable durch Aufbau des Zubringersystems der metro-plus, dem Bau sehr schöner und architektonisch wie programmatisch supermoderner Bibliotheken mit Internetnutzung für alle direkt in den hohen (= armen und tendentiell gewaltgefährdeten) Barrios u.a. sichtbar wird, schlägt sich für unsere Arbeit in einem Phänomen nieder, das wir aus Deutschland bereits kennen: Ähnlich wie hier Videoüberwachung öffentlicher Plätze Treffpunkte der einschlägigen Szenen und auch der Straßenbewohner zerschlagen hat und Straßenarbeiter wie die von Freezone in Mannheim zwingt, ihre Klientel in den Straßen der Stadt zu suchen, so mußten auch wir unsere Klientel sehr oft erstmal suchen. Neben Kameraüberwachung und den MitarbeiterInnen des Espacio público, die ja bereits im Frühjahr massiven Druck auf die Straßenbewohner ausgeübt hatten (s. meinen Bericht vom 2. Forschungsaufenthalt), sich jetzt aber schwerpunktmäßig mehr den Straßenhändlern zuwendeten und diese auch mit Polizei-Großeinsätzen von der Straße vertreiben, ist es vor allem die massive und offensichtlich auch verstärkt gewalttätige Polizeipräsenz, die „unseren“ Kindern und Jugendlichen den Aufenthalt auf den Plätzen und überhaupt längeres Verweilen an einem Ort unmöglich macht. „Angriffspunkt“ der Polizei ist dabei oft die Sacol-Flasche oder – tüte: Vor der Wahl, sie abzugeben oder zu gehen, wählen die Kinder und Jugendlichen in der Regel das Gehen. Sie sind also mehr oder weniger ständig in Bewegung, oder doch in unruhiger Aufmerksamkeit, was unserer Arbeit mit ihnen natürlich sehr schadet, und wir treffen die Plätze nun oft erstmal ohne Kinder an.
Haben wir dann aber in einer der umliegenden Straßen welche gefunden und „Schreibtische“ aufgebaut – mitgebrachte oder vor Ort erbetene Kartons, dann finden sich schnell 5, 10, 15 und mehr Kinder und Jugendliche ein, um zu sehen, was es heute gibt.
Durch die inzwischen recht regelmäßige Präsenz der Studentinnen der ENSMA auf der Plaza Rojas Pinilla (und bis vor kurzem auch noch im Barrio Triste) sind die Kinder dort auf Aktionen getrimmt. Zur Begrüßung heißt es nun oft: „Welche Aktion machen wir heute?“ – eine gute Basis für unsere (Projekt-)Arbeit in der dritten Seminar-Phase.
Es ist außerdem eine gute Legitimation gegenüber dem Espacio público, Polizei und Passanten: Wir machen jetzt explizit „Schule“, die Aktionen bekommen Namen von Schulfächern.
Bezüglich der eigenen Forschungen dreht sich wieder alles um Zeiterfahrungen, Zeitstrukturen und Zeitvorstellungen der jungen Straßenbewohner im Kontext ihrer Lebensräume. Im Rahmen der beschriebenen äußeren und inneren Unruhe unserer Gesprächspartner sind längere, zusammenhängende und ungestörte Gespräche nur noch sehr schwer möglich, obwohl meine Frau und ich unsere Besuche nun schwerpunktmäßig am Wochenende durchführen.
Nur im Barrio Triste, wo inzwischen nur noch diejenigen übriggeblieben sind, die keine Alternative haben, gibt es an Sonntagen auch das ein oder andere längere Gespräch. In Ergänzung zum Ideal des biographisch-narrativen Interview lassen wir unsere GesprächspartnerInnen nun aber auch im Gewand von Aktionen auf mathematischer Basis (graphische Quantifizierung von Lebensvollzügen und deren Bewertung, Logik etc.) Tagesabläufe, Lebensentwürfe u.ä. (re-)konstruieren, was von ihnen sehr gerne angenommen wird. Wir werden jetzt wiederholt mit kleinen Schlangen von Anwärtern für die nächste Aktionsrunde begrüßt.
Dabei stoßen wir auf mögliche Unterschiede zwischen den jungen Straßenbewohnern im Barrio Triste und den tendentiell jüngeren im Bereich der Plaza Rojas Pinilla: Stößt man dort in tiefergehenden Gesprächen oft auf Blockaden infolge traumatischer Erlebnisse, die mit dem Leben der Kinder dort zumindest in einem engen Zusammenhang zu stehen scheinen, sind solche bei den Kindern der Rojas Pinilla bisher fast nicht aufgetreten: Diese haben aufgrund eigener biographischer Erlebnisse einen eigenen Lebensstil an diesem Ort entwickelt, von dem sie auch frei erzählen, ohne daß es zu solchen Abbrüchen käme. Aber hier wäre noch vertieft zu forschen. Vielleicht sind wir bei den Kindern und Jugendlichen im Barrio Triste einfach schon vertrauter und deshalb weiter.
Eines soll nicht unerwähnt bleiben: Wir treffen auf der Straße in der Nähe der Plaza Rojas Pinilla auch die hochschwangere Liliana wieder, die wir früher immer im Barrio Triste getroffen haben. Sie hat ihre Schwangerschaft bislang sehr gut überstanden, das Kind ist noch da, und es fehlen nur noch wenige Tage bis zum regulären Geburtstermin. Liliana sieht sehr gut aus und wohnt in einem Zimmer mit dem Vater ihres Kindes, einem Zimmermann, sagt sie, gleich um die Ecke. Wir hoffen, immer mit ein bißchen Bangen verbunden, daß die Schwangerschaft ein gutes Ende hat. Und Liliana hofft, daß sie ihr Kind diesmal behalten darf.