Hintergrundinformationen / Erfahrungsberichte/Ferdinand Fj. 2007 
                 
               
              Spurensuche und Fragmente
                  Erfahrungsbericht zum 2. Kolumbienaufenthalt (23.2.-15.4.2007). 
                Von Manfred  Ferdinand
                Die sehr beeindruckenden Erfahrungen des ersten Aufenthaltes  im Spätsommer des vergangenen Jahres noch in lebendiger Erinnerung, war ich  gespannt: Welche Situation werde ich in der Escuela Normal vorfinden, wo werde  ich wohnen, wer von den Straßenbewohnern, die ich kennengelernt hatte, werden  noch da sein? Nach einem langen, aber erträglichen Flug gab es erste Antworten.  Victor Marín, das erste bekannte Gesicht, holt mich vom Flughafen ab. Die  Unterkunft in der Familie von Katherine, der neuen Deutschlehrerin an der ENS,  die auch schon in Heidelberg studiert hat, ist super, reicht auch für meine  Frau, die in den Osterferien nachkommen wird; die Familie ist supernett. Am  nächsten Morgen in Copacabana werde ich überall auf der Straße begrüßt, von  Kindern der ENS, aber auch von Erwachsenen – die Menschen hier freuen sich,  mich herzlich willkommen zu heißen, und mich freut dieser Empfang natürlich auch.  In der Schule geht es genauso herzlich weiter. Ich bekomme einen Arbeitsplatz  mit Internetanschluss im Archiv der Bibliothek – das ist Luxus pur, kein Lehrer  dort hat mehr als einen Minischreibtisch, auf dem neben Bergen von  Schülerheften kaum noch Platz zum Arbeiten übrig bleibt. Die Arbeit kann  losgehen.
                 Die Tage beginnen in der Regel mit dem Buenos Dias um 6.45  Uhr, einer Schülerversammlung im Auditorium, in dem die SchülerInnen auf die  Werte der Salesianer-Schulen eingestimmt werden. Die Teilnahme an dieser  Veranstaltung macht mir bewusst, wie zentral die Wertevermittlung hier in  Medellín ist, nicht nur in der ENS, sondern überall in der Öffentlichkeit: Das  ganze Denken und Reden nicht nur der Schülerinnen ist davon geprägt, sondern  das der ganzen Gesellschaft – man drückt sich niveauvoll in Werten aus, und bei  jedem Straßenkind, ja selbst bei Betrunkenen, die einen auf der Straße lallend  anbetteln, gehört das „ser humano“ und andere Elemente dieses Wertesystems zur  grundlegenden Rhetorik.
                  Für den Unterricht mit den Schülerinnen, die jetzt im Grado  noveno sind und unter denen es ein paar neue anstelle einiger bekannter  Gesichter gibt, steht diesmal allerdings deutlich weniger Zeit zur Verfügung:  mittwochs 1 ¼ Stunden für die Theorie, und nur noch ein Termin freitags für die  „salida“, die Fahrt nach Medellín zum Besuch von Straßenkindern. Das reicht  zusammen gerade mal für eine Aufarbeitung und Besprechung des vorausgegangenen  Besuchs auf der Straße. Nichtsdestotrotz: Die Schülerinnen sind sehr motiviert,  freuen sich auf das Wiedersehen mit den ihnen vertraut gewordenen  Straßenkindern vom vergangenen Jahr.
                 Aber auch hier gibt es Veränderungen. Einige der bekannten  Gesichter im Barrio Triste, besonders von jüngeren Straßenkindern, sind nicht  mehr da. Dafür etliche andere, und die bekannten sind z.T. in einem deutlich  schlechteren Zustand als wir sie in Erinnerung haben. Einige wiederum sind sehr  gut gekleidet, manche sogar viel zu gut für diesen Ort, und auch die Zahl der  älteren Jugendlichen, die sich an diesem Platz nur vorübergehend bzw. tagsüber  aufhalten, hat sich deutlich erhöht. Das hat Auswirkungen auf die gesamte  Atmosphäre: Es ist deutlich unruhiger; es ist kaum möglich, mit den jüngeren  Straßenbewohnern längere Gespräche zu führen; Drogenverkauf und Drogenkonsum,  finden direkt vor unseren Augen statt. Dadurch gerieren sich die älteren  Jugendlichen sehr dominant, die Sacol-schnüffelnden „echten“ Straßenbewohner  schleichen zwischen ihnen herum oder verkrümeln sich. So kommt es, dass wir oft  zunächst gar keine oder nur sehr wenige von ihnen antreffen. Erst nach und nach  kommen sie aus ihren verschiedenen Rückzugsorten herbei, wenn sie uns bemerken;  aber die Schülerinnen haben es schwer, sich der Anbändelungsversuche der  Älteren zu erwehren und sich auf die eigentlichen Straßenkinder zu  konzentrieren. Der Ort ist eine „Plaza“, ein „heißer“ Ort; kein Wunder, dass  dauernd Polizeipatroullien auf dem Motorrad durchfahren und sich auch mehr oder  lange aufhalten.
                
                                  Aber noch etwas hat sich verändert. Schon im Herbst des  vergangenen Jahres hatte es eine Begehung des Barrio Triste durch Vertreter des  municipio, der Stadtverwaltung und politischer Vertreter gegeben, in der Presse  war von Plänen zur Stadtteilerneuerung die Rede. Und es war abzusehen, dass  „unsere“ Straßenbewohner die ersten sein würden, die würden weichen müssen.  Das, was wir in diesem Frühjahr hier erleben, bestätigt diesen Eindruck.
„Defensor del Espacio Publico“ steht auf dem Rücken hell  gekleideter Angestellter der Alcaldia de Medellín, des Bürgermeisteramtes der  Stadt Medellín geschrieben: „Verteidiger des Öffentlichen Raumes“. Sie kommen  morgens um 5 (!) Uhr und besetzen den Platz bis in den Abend hinein, wir zählen  manchmal bis zu 20 Mitglieder dieser „Säuberungstruppe“, die sich vor Ort aufhalten  und zwischen den Kindern herumstehen, aber auch in der übrigen Stadt in Gruppen  von mindestens 8 Leuten überall anzutreffen sind. Mit Mütze und Handschuhen,  z.T. mit Besen und Schaufeln und Säcken „bewaffnet“, sind sie jederzeit bereit,  jegliches herumliegende Hab und Gut der Straßenbewohner aufzusammeln und zu  entsorgen. „Herumliegendes Hab und Gut“ bedeutet in diesem Fall auch Kissen,  Decken, Essen und sogar zum Trocknen über einem Zaun aufgehängte Wäsche. Alles,  was die Kinder nicht an sich festhalten können, wenn der Espacio Publico  auftaucht, fällt der „Säuberung“ augenblicklich zum Opfer. Kein Wunder, dass  alle Straßenbewohner Säcke bei sich tragen, in denen sie ihr Hab und Gut  jederzeit mit sich führen; bei aller Notwendigkeit, den Lebensraum der Straßenbewohner  sauber zu halten, hat diese Art der Realisierung eher den Charakter von Raub,  und so empfinden die Schülerinnen sofort, trotz aller gut klingenden  Erläuterungen der Leute vom Espacio Publico, dass es dabei so gut mit den  Kindern nicht gemeint sein kann. – Die Polizei tut anscheinend das Ihre dazu,  den „gefährlichen Ort“ aufzulösen. Eines Tages kommen wir an und können uns mit  unseren Straßenbewohnern nicht mehr auf die kleinen Mauern der Rabatten um die  Bäume dort setzen: nach Angaben der „Kinder“ war es die Polizei, die das Öl auf  die Mäuerchen geschüttet hat, das das Sitzen auf ihnen über Wochen hinweg  unmöglich macht.
Zuguterletzt ist auch der Eingang in die Schlafstelle der  „Kinder“ zugemauert. Sie kommen zwar trotzdem noch hinein, indem sie sich auf  abenteuerliche und lebensgefährliche Weise von oben durch die Stahlkonstruktion  der Brücke nach unten hangeln, aber die Größeren kommen nur noch mit Mühe durch  den schmalen verblieben Spalt. Wie Carlos, der Rollstuhlfahrer, das schafft,  ist mir ein Rätsel.
                
                                  Für meine Arbeit, die Frage nach Zeiterfahrungen,  Zeitstrukturen und Zeitvorstellungen von Straßenkindern, hat diese neue  Situation ebenfalls Konsequenzen: das fragmentarisierte Leben der  Straßenbewohnern schlägt sich direkt im stark fragmentarisierten Charakter des  Materials, das ich aus den Begegnungen mit den Straßenkindern, dem Leben in der  Area Metroplitana von Medellín, Kontakten mit Fachleuten etc. gewinnen kann,  nieder, und es bewährt sich der Ansatz, großflächig auf der Basis verschiedener  Quellen einschließlich der Reflexion des eigenen Lebens und Erlebens dort  meiner Forschungsfrage nach zu gehen: Man muss die Spuren verfolgen, die in den  Begegnungen mit den Straßenkindern sichtbar werden; eine solche Spur führt z.B.  in die Barrios der Stadt Medellín, auf die so viele Kinder als den Ort ihrer  Herkunft verweisen, den sie z.T. auch besuchen, wo sie aber nicht mehr  dauerhaft leben können.
                