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Das Projekt Patio 13 / Archiv / 2002

 

Erfahrungen in der Begegnung mit Straßenkindern

Hartwig Weber (August 2002)

Keine der Studentinnen hatte jemals einen persönlichen Kontakt mit Straßenkindern, und normalerweise meiden sie die Gegenden, in die sie das Projekt jetzt führt. Dort begegnen sie einer unbekannten, sie irritierenden, verunsichernden und ängstigenden neuen Welt.

Was sie erleben und erfahren, erleben und erfahren sie beispielhaft für alle zukünftigen Studenten, die sich während der Ausbildung in der Normal einmal mit Straßenkpädagogik beschäftigen sollen.

Deshalb ist es von persönlichem wie von allgemeinem Interesse, dass sie ihre Erfahrungen und Erlebnisse aufschreiben.
Jede Studentin führt ein Projekttagebuch. Darin dokumentieren sie den eigenen Weg des Lernens und der Selbstveränderung:

Rosa Arias und Alejandra Castano schreiben:
"Wenn irgendwo das Thema Straßenkinder angesprochen wird, ist es üblich, schnell darüber hinweg zu gehen, wegzuhören. Schließlich fühlt sich jeder irgendwo schuldig für diese harte, ungerechte Wirklichkeit." "Wenn ich zum Patio (im Stadtzentrum) komme, muss ich erstmal meine Angst überwinden. Es ist nicht leicht, mit den Kindern in Kontakt zu treten. Spiele helfen uns dabei: mit Wasser gefüllte Luftballons, Bälle, Bastelarbeiten. Je häufiger wir miteinander spielen, um so näher kommen wir uns. So lernen wir etwas vom Leben der Kinder kennen, etwas von ihrer Persönlichkeit, ihren Vorlieben, ihren Freunden und auch von ihren Feinden." "Wenn wir die Angst erst einmal überwunden haben, gelingt es, auf dem eingeschlagenen Weg voranzukommen, wir kommen uns näher; und das ist wichtig für sie, aber auch für uns."

Luisa Fernanda Ríos: "Als wir zum zweitenmal hinkamen, freuten sich die Kinder. Wir machten ein Kennenlern-Spiel, bei dem man sich die Namen aller Anwesenden merken und aufsagen mußte. Bei den weiteren Spielen gingen die älteren Kinder - die über Vierzehnjährigen - auf die Seite und machten nicht mit. Einige waren zu ängstlich, die anderen dachten, das seien Spiele für Kleinkinder, nicht für sie. Manche hatten einfach keine Lust zum Spielen. Das machte die Sache etwas schwierig; sie fingen an und ließen es gleich wieder bleiben, je nach Lust und Laune. Die Verabschiedung war etwas schwer für mich. Viele von ihnen kamen herbei, umarmten mich, gaben mir Küsse; einer übertrieb es etwas, er wollte mich einfach nicht mehr loslassen." "Bei unserem dritten Kontakt waren die Kinder schon viel zutraulicher; sie spielten jetzt lieber mit und hatten offensichtlich mehr Freude dabei. Ein Kind hat mich besonders angezogen, es heisst Arley - ein zarter Junge, den man sofort sympathisch findet und der sehr leicht Kontakt mit einem aufnimmt. Er ist überhaupt nicht ängstlich, und er nimmt auch keine Drogen. Er schließt sich sofort demjenigen an, der freundlich und zärtlich mit ihm ist."

Sor Sara: "Auf die Straße gehen und Kontakt mit den Kindern aufnehmen - das ist immer wieder ein Abenteuer, das mir nicht selten etwas Angst macht. Da begibt man sich auf einen Weg, der schwierig ist und auf dem es nur langsam vorangeht. Bei der ersten Begegnung waren die Kinder sehr zurückhaltend, wenig spontan; sie beobachteten uns aus der Ferne, fuhren mit dem fort, was sie gerade taten, ließen uns dabei aber nicht aus den Augen. Dann aber sind wir uns langsam näher gekommen, jedes neue Mal sind sie aufgeschlossener, freundlicher. Sie wollen, dass man ihnen zuhört, wollen ihre Lebensgeschichte erzählen, von ihren Ängsten und Plänen berichten. Die meisten sagen, sie seien von zu Hause ausgerissen, weil sie geschlagen worden sind.
Wenn man sieht, wie sie schlafen, zusammengerollt wie Embryos - das drückt unbewußt aus, was ihnen fehlt und was sie brauchen: Sie suchen ein Nest, eine Schulter, an die sie sich lehnen, einen Schoß, in den hinein sie sich bergen können. Aber die wenigsten wollen zurück zu ihrer Familie.
Sie haben Waffen, Messer, Pistolen; denn sie leben in beständiger Angst,. Sie haben Hunger, und ihr Territorium müssen sie Tag für Tag aufs Neue verteidigen, und sie müssen um Nahrung und Drogen kämpfen. Das schlimmste ist jedoch der sexuelle Missbrauch, der hauptsächliche Grund, weshalb sie sich bewaffnen.
Untereinander sind sie aggressiv und gewalttätig. Ständig streiten sie, dauernd verletzen sie sich mit Messern. Ihre Körper sind voller Wunden, jede Narbe erzählt eine böse Geschichte und erinnert sie daran, den abgrunbdtiefen Hass ihres Herzens nicht zu vergessen.
Was alle wollen, ist leicht gesagt: zur Schule gehen, etwas lernen, eine Arbeit aufnehmen, eine Familie gründen. Wenn sie darüber sprechen, verändert sich der Ton ihrer Stimme, sie rücken näher heran, ihre Worte werden ernst, nachdenklich, traurig. Sie lieben es, wenn man ihnen zuhört, sich für ihre Geschichte interessiert. Sie wollen mit ihrer ganzen Wirklichkeit wahrgenommen werden.
Beim Abschied - in der Umarmung, bei einem Kuß, beim Händedruck - zeigen sie, wenn auch ängstlich, etwas von ihren Gefühlen."