Escuela Normal Copacabana auf dem Weg zu einer wissenschaftlichen Einrichtung für Forschung, Lehre und Medienproduktion auf dem Gebiet der Straßenkinderpädagogik
Hartwig Weber (April 2006)
Bei meinem diesjährigen Frühjahrsaufenthalt in Kolumbien vom 6. März bis 6. April 2006 werde ich von Anna-Lena Wiederhold und meinem Sohn Jonas begleitet. Anna-Lena absolviert an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg einen Promotionsaufbaustudiengang und hat vor, eine Dissertation zum Thema Religion der Straße zu schreiben. Jonas, der gerade sein Studium im Fach Medien und Medienkunst beendet, bietet an der Normal zwei Seminare über Filmanalyse an und führt die Langzeitdokumentation über Marcela fort.
Statt eines persönlichen Erfahrungsberichts möchte ich dieses Mal darüber informieren, wie das Projekt Patio13 die Escuela Normal Superior in Copacabana, in der Lehrer ausgebildet werden und deren Direktorin Sor Sara ist, verändert hat.
Zuerst (1) werde ich, den einzelnen Tagen der Woche entlanggehend, die im Rahmen des Projekts regelmäßig stattfindenden Seminare und Aktivitäten nennen.
Sodann (2) beschreibe ich die Laufbahn, die Schüler bzw. Studenten absolvieren können, die sich ins Projekt Patio13 einschreiben.
Schließlich (3) füge ich eine Aufzählung der gleichzeitig in Deutschland vorangetriebenen Maßnahmen an.
I. Patio13: Aktivitäten an der Escuela Normal im Wochenverlauf
1. „El Seminario General de Patio13“ - Basisseminar
An jedem Montagmorgen treffen sich um 7 Uhr die Studenten des Ciclo complementario (der Studienphase, die die Normalistas an der Universität absolvieren). Derzeit sind 47 von ihnen im Projekt engagiert. Sie tauschen ihre pädagogischen und didaktischen Fragen, Probleme und Erfahrungen bei der Unterrichtung der Kinder und Jugendlichen im Patio in den verschiedenen Fächern (Muttersprache, Mathematik, Natur- und Sozialwissenschaften) aus. An dem Seminar nehmen auch 9 Dozenten als Vertreter ihres jeweiligen Faches teil.
Über die Didaktik hinausgehend, wird das Thema Straßenkinder als weltweites Phänomen reflektiert. Grundtendenz dieses Seminars ist es, die Identifikation mit dem Projekt immer weiter zu vertiefen.
2. Praktika und Praxisseminar
Täglich (dienstags bis freitags) finden Praktika im Patio Don Bosco statt. (Bisher arbeiten wir hauptsächlich mit Jungen; in absehbarer Zeit werden wir einen Schwerpunkt auf Straßenmädchen legen.) Jede Praktikumsgruppe umfasst etwa 15 Studenten und wird von einem Fachdozenten geleitet. Grundlage der Lernangebote sind die von den Studierenden selbst gemachten ethnographischen Studien. Auf dieser Basis werden nun Bildungsangebote in den verschiedenen Lerngebieten gemacht. Die dabei gewonnen Erfahrungen, Erfolge wie Schwierigkeiten, werden prozessbegleitend in einem Praxisseminar besprochen.
3. „El Grupo Coordinador“. Koordinierungsseminar
Jeden Donnerstag trifft sich von 19 bis 21 Uhr die Projekt-Koordinierungsgruppe. Derzeit setzt sie sich aus 12 Studierenden zusammen. Ihre Aufgabe ist es, den Überblick über die verschiedenen Aktivitäten des Projekts zu halten, weitere Schritte zu planen, organisatorische Probleme zu lösen und insbesondere einzelne Forschungsvorhaben anzuregen und zu entwickeln.
Derzeit (im März 2006) ist die Arbeit dieser Gruppe insbesondere darauf konzentriert, Vertreter von sechs oder sieben Straßenkinder-Institutionen, die am Projekt Patio13 partizipieren, zu empfangen und sich mit ihnen über ihre jeweiligen Konzeptionen auszutauschen. In der Koordinierungsgruppe werden außerdem Maßnahmen wie die (bisher ziemlich erfolglose) Installierung der spanischsprachigen Homepage und die Entwicklung einer spanisch-deutschen Zeitschrift (bzw. eines Newsletters) –„ Patio13-Nachrichten“/“Novedades de Patio13“ – vorangebracht.
4. Escuela de Egresados – Zentrum für Lehrerfort- und weiterbildung
Jeweils donnerstagnachmittags tummeln sich zwischen 100 und 200 Acht- bis Vierzehnjährige auf dem Campus der Normal. Sie sind, begleitet von Studentinnen von Patio13, mit Bussen aus den am Projekt beteiligten Straßenkindereinrichtungen sowie vom Patio Don Bosco im Zentrum Medellíns hergebracht worden. Es ist offensichtlich, dass die Bildungsförderung in den Institutionen zu wünschen übrig lässt. Hier springt Patio13 ein. Zunächst gibt es für die Gäste Spiele, Sport und etwas zu essen und zu trinken. An diesem Teil der Zusammenkunft sind (unter der Leitung Sor Doras) derzeit 15 Studentinnen beteiligt.
Anschließend teilt man sich in Lerngruppen auf. Weitere neun Studentinnen bieten Workshops an. Diese Arbeitsgruppen sind nicht nach Fachgebieten, sondern nach Projekten (zum Beispiel Theater, Drachenbau, Bibliotheksbesuch, Orientierung in der Stadt usw.) organisiert.
Ziel dieses Vorhabens ist die Förderung des sozialen Verhaltens der beteiligten Kinder und Jugendlichen. Vor allem aber werden die Studentinnen von Patio13, die die Normal verlassen und auf eine Universität oder in den Beruf gehen, langfristig an das Projekt gebunden, indem ihnen – im Kontext des Zentrums - Angebote zur Vertiefung im Themenbereich Straßenkinderpädagogik gemacht werden.
II. Integration von Straßenkinderpädagogik in den Studienplan – oder: Patio13 studienbegleitend
Ausbildung und Studium an der Escuela Normal Superior in Copacabana stehen – nach fünf Jahren Patio13 – für viele Studenten und Studentinnen im Zeichen ihres Engagements für das Projekt. Ich möchte hier beschreiben, wie sich die Beteiligung der Schüler und Studenten und ihr Engagement im Verlauf ihres Studiums darstellt:
Mit 13 oder 14 Jahren (grado octavo) können die Schüler der Escuela Normal dem Projekt beitreten. Sie müssen sich darum eigens bewerben und schließen eine Art (schriftlichen) Projektvertrag. In diesem Frühjahr haben sich 80 beworben, 25 wurden aufgenommen.
Für sie beginnt jetzt die erste Phase ihrer Mitarbeit. Sie besteht darin, sich einführend mit dem Projekt Patio13, seinem Anliegen und seiner Geschichte zu beschäftigen. Es finden erste Zugänge zum „Feld“ der Straße (Barrio Triste, El Naranjal usw.) und erste Begegnungen mit Straßenkindern statt.
Die jungen Projektteilnehmer haben die Aufgabe, eine Art Feldtagebuch zu führen. Regelmäßig (jeweils freitags zwischen 14 und 17 Uhr) findet ein Erfahrungsaustausch statt.
Im Alter von 14 bis 15 Jahren (grado noveno) beginnen die Schüler, ihre Beobachtungen zu systematisieren und eigene Forschungsfragen zu formulieren. Sie werden langsam mit ethnographischen Forschungsmethoden vertraut gemacht.
Nun erarbeiten sie erste Fallstudien („historias de vida“). Sie vergleichen einzelne Straßenkinderschicksale miteinander, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede festzustellen. Nun beginnt auch die gezielte Lektüre und Bearbeitung wichtiger Bücher zum Thema. Einzelne Schüler begleiten Straßenkinder nach Hause und beschreiben anschließend die Familiensituation.
Im Alter von 15 und 16 Jahren (grado decimo) werden die ethnographischen Studien vertieft und die gewonnen Kenntnisse und Erfahrungen erstmals auf pädagogische Fragestellungen angewendet. Welche Relevanz hat Bildung für das Schicksal der Straßenkinder? Welche pädagogischen Angebote sind wichtig und notwendig, wenn wir berücksichtigen, was wir vom Leben auf der Straße in Erfahrung gebracht haben? Welche Mittel, Methoden und Medien sind für das Lernen mit Straßenkindern angebracht und erfolgversprechend? Beim Nachdenken über diese und ähnliche Fragen werden die Studenten von Pädagogen, Psychologen und Soziologen begleitet.
Mit 16. und 17 Jahren beginnt der Ciclo complemantario, die Phase der Lehrerbildung, in der die Studenten der Normal die Universidad de Antioquia besuchen. Mit dem dortigen Dekanat der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät sind alle notwendigen Absprachen getroffen, sodass die Studierenden der Normal dort ihren Schwerpunkt Straßenkinderpädagogik fortsetzen und ihre Examenarbeiten bzw. Forschungsprojekte im Rahmen von Patio13 durchführen können, wobei sie von Professoren begleitet werden, die ebenfalls im Projekt engagiert sind.
Der Ciclo complementario dauert 4 Semester. Während dieser Zeit nehmen die Studierenden an den Aktivitäten teil, die ich oben (unter I) beschrieben habe.
Mit Abschluss des Ciclo complementario erwerben die Studenten die Licenciatura, mit der sie in den Beruf einsteigen oder, alternativ, eine Maestria (Masterstudium) an der Uni anschließen können.
Geplant war die Einführung des Masterstudiengangs Straßenkinderpädagogik an der Universidad de Antioquia für Frühjahr 2006. Wegen der bevorstehenden Präsidentenwahlen im Mai wurde der Startschuss auf Juli verschoben.
Die Escuela Normal Copacabana ist auf dem Weg, sich zu einem wissenschaftlichen Institut zu entwickeln. Dessen Aufgabe wird es sein, zum Themenbereich Straßenkinder und Straßenkinderpädagogik Forschung zu betreiben, Impulse für die Lehre zu geben und Medien und Lernmaterialien zum Thema zu entwickeln. Ein solches Institut gibt es bisher nicht. Die Normal, die jetzt schon bei landesweit vergleichenden Evaluationen, die staatlicherseits durchgeführt werden, den Spitzenplatz einnimmt, wird darin die Vorreiterrolle einnehmen.
III. Entwicklung des Projekts in Deutschland
In aller Kürze will ich hier noch die gerade anstehenden Maßnahmen und Vorhaben von Patio13 in Deutschland nennen:
1. An der Pädagogischen Hochschule Heidelberg wird das Kompetenzzentrum Patio13 Straßenkinderpädagogik eingerichtet, an dem die Universität Heidelberg, die Universität Freiburg und die Pädagogische Hochschule Freiburg beteiligt sind.
2. Am 1. März 2006 wurde Frau Simone Wessely als Geschäftsführerin des Kompetenzzentrums eingestellt.
3. Als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt „Religion, Alltagsphilosophie und Überlebensstrategien von Straßenkindern“ wird zum 1. April 2006 Herr Manfred Ferdinand eingestellt.
4. Kollegen der Pädagogischen Hochschule und der Universität Heidelberg sowie der Universität und Pädagogischen Hochschule Freiburg entwickeln derzeit in Kooperation mit der Don Bosco Jugend Dritte Welt, Bonn, sowie in Absprache mit der Escuela Normal Superior in Copacabana, der Universidad de Antioquia in Medellín und der Universidad Externado de Colombia in Bogotá den Master- (Maestria-) Studiengang Straßenkinderpädagogik , der im Jahr 2007 akkreditiert werden soll. Die Module des Studiengangs sind bereits formuliert.
5. Die drei Studentinnen der Escuela Normal, die sich zu einem Studienjahr in Heidelberg aufhalten und ein Stipendium der Baden-Württemberg-Stiftung bekommen haben, werden derzeit im Lehrzentrum der Heidelberger Druckmaschinen AG zu „Druckerinnen“ ausgebildet. Im Sommer wird eine Druckmaschine aus Heidelberg nach Copacabana verschickt, wo sie zur Alphabetisierung von Straßenkindern, zur Herstellung eigener didaktischer Materialien und zur Motivation, eine Druckerlehre aufzunehmen, eingesetzt werden soll.
6. Angeregt durch das fünfjährige „Jubiläum“ des Projekts entwickeln wir derzeit ein neues Informationsmedium – die „Patio13-Nachrichten“ / „Novedades de Patio13“ – die in spanischer und deutscher Sprache sowie in digitaler (in Kolumbien auch in gedruckter) Form erscheinen soll. Als Erscheinungstermin der ersten Nummer haben wir den Beginn des Sommersemesters vorgesehen.
Mit herzlichen Grüßen aus Kolumbien.
Hartwig Weber